Liebe Unbekannte (German Edition)
Hand. Vater war gerade dabei, ihr diesen aus der Hand zu drehen.
„Kommen Sie doch endlich zur Vernunft, meine Dame“, sagte er streng.
„Mich nicht, mich nicht“, rief die entwaffnete Frau, als glaubte sie, Vater habe schon jemanden um die Ecke gebracht, und nun sei sie an der Reihe. Sie beschloss zu fliehen. Der Kampf war entschieden. Als Gerda mit wenigen Sprüngen bei Vater ankam, war die Alte schon im Dickicht hinter dem Fabrikzaun verschwunden.
„Zu Hause ist alles in Ordnung“, sagte Gerda schnaufend, denn Vater dachte immer gleich an das Schlimmste. „Alles in Ordnung, du musst dir keine Sorgen machen.“
Vater drehte sich mit dem Stock in der Hand verwundert um: Erst jetzt bemerkte er Gerda.
„Was machst du denn hier?“
Gerda konnte nicht antworten, sie keuchte noch vom Rennen. Sie deutete auf ihren Mund: Gleich, er solle sich nur kurz gedulden. Vater lehnte den Stock an die Wand. Er spürte, dass eigentlich er ihr eine Erklärung schuldig war, auch wenn er es ein für allemal verboten hatte, dass jemand aus der Familie ihn hier besuchte. Erst recht so spät. Unwillig sagte er:
„So geht das jede Nacht.“ Das sollte die bizarre Szene zu einem alltäglichen Ärgernis schrumpfen lassen, sie bekam dadurch jedoch nur noch zusätzlich einen dunklen, zeitlichen Aspekt. Das spürte auch Vater.
„Zumindest in letzter Zeit“, fügte er hinzu, um die schief geratene Erklärung ein wenig herunterzuspielen.
„Sie kommen einfach gerne her“, sagte er als eine Art Synthese, zuckte mit den Schultern und deutete mit der rechten Hand in die Dunkelheit, wo die Alte verschwunden war.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte er nun, und mit diesem Themenwechsel bot er Gerda an, nicht mit ihr zu schimpfen, wenn Gerda ihn im Gegenzug nichts fragte. Aber Gerda schlug das Angebot aus.
„Wer zum Teufel war das, Vater?“, fragte sie lachend und immer noch schnaufend. Und damit hatte sie die Frage gestellt, die Vater schon erwartet hatte. Seit vielen Jahren hatte er befürchtet, sie eines Tages beantworten zu müssen.
Er hatte zwar nicht damit gerechnet, dass sie ihm unter so lächerlichen Umständen gestellt würde, aber er wusste, dass er ihr nicht entkommen konnte. Früher oder später musste das passieren. Dennoch hatte er große Angst vor dem Augenblick, in dem eines seiner Kinder sich mit trotzigem Gesicht vor ihn stellen und den schonungslosen Satz aussprechen würde:
Vater, so kann es nicht weitergehen
. Dann würde er eine Antwort geben müssen. Und er, der am besten wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, würde nichts erwidern können. Und das würde das Ende von allem bedeuten.
Denn dann würde er eingestehen müssen, gescheitert zu sein. Und dann wäre es aus mit der Familie. Mit der Ehre. Vielleicht sogar mit dem Leben. Es bliebe nur noch die Schande. Seine Unfähigkeit als Familienoberhaupt wäre besiegelt.
Er hatte auch geahnt, dass dies von Gerda kommen würde.
Auch sie hatte sich schon seit Langem auf diesen Augenblick vorbereitet, aber sie hatte ihn nicht für diese Nacht geplant. Sie hatte die Sache seit Jahren hinausgezögert, in der Hoffnung, Vater würde den ihm gebührenden Platz in der Welt auch allein finden und uns ans Licht führen. Aber die Ereignisse des Tages, Onkel Lajos und Tante Judit, Vadda, der um Erikas Hand angehalten hatte, das Wasserkraftwerk, die Olbachs, all das deutete darauf hin, dass dies, wenn sie nun schon einmal mitten in der Nacht zu Vater gerannt war, der geeignete Augenblick sei. Dieser und kein anderer. Jetzt musste sie Vater über alles befragen. Über unser ganzes Leben, unsere Lächerlichkeit, den seltsamen Respekt, den jeder, der ihn nur ein bisschen besser kannte, Vater gegenüber empfand. Darüber, wer er eigentlich war. Sie musste ihm die Frage stellen, unbedingt. Sie wollte Vater nicht angreifen, ganz im Gegenteil. Sie wollte ihm helfen, nun endlich als Erwachsene. Auf Erika konnte man nicht zählen, ich war klein und feige, und die Zeit rannte davon, bald würde Vater alt werden und gar nichts mehr wollen, außer zu sterben. Und sie war die richtige Person, um ihm zu helfen, nur sie, Gerda. Sie hätte ihr Leben dafür gegeben. Damit es von nun an für alle besser würde, vor allem für Mutter. Ja, nur musste man sich dazu erst einmal mit trotzigem Gesicht vor Vater stellen und den schonungslosen Satz aussprechen:
Vater, so kann es nicht weitergehen
. Und nun war die Gelegenheit da. Oh, Gott.
„Was meinst du mit ‚wer‘?“, fragte
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