Liebe Unbekannte (German Edition)
Schlafgelegenheit gab, weil selbst die Arbeitgeber der Nachtwächter nicht von ihren Angestellten erwarteten, alle Arbeitsstunden wach zu verbringen. Gerda erwartete jedoch mehr von Vater als die Arbeitgeber der Nachwächter, sie erwartete etwas ganz Besonderes. Oder zumindest, dass er berühmt wurde. Sie wusste, dass Vater eines Tages etwas Weltbewegendes hervorbringen würde, und da dachte sie ganz richtig, denn Vaters Kopf war voller weltbewegender Ideen. Gerda war ein starkes Mädchen und wusste, sie würde es überstehen, Vater doch schlafend vorzufinden. Die andere Angst, eine Frau bei Vater anzutreffen, plagte sie schon mehr. Das war Mutters Vision, die jeder Grundlage entbehrte, abgesehen von Vaters Späßen über die Nachtfalter, die um das Pförtnerhäuschen schwirrten: „Ja, leider sind es nur Falter ...“ Vater war sein ganzes Lebens lang treu und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre ihm das Pförtnerhäuschen zu peinlich gewesen, um eine Frau dorthin mitzunehmen.
Das Pförtnerhäuschen diente anderen Zwecken. Hier fochten Vater und sein Gehirn ihre nächtlichen Kämpfe aus. Mit schwankendem Ergebnis. Vaters Gehirn war ein seltsames Konstrukt. Ein Konglomerat aus dem Gehirn eines Erfinders und eines Propheten. Hunderte von Ideen strömten aus ihm und Dutzende Visionen. Das Problem bestand darin, dass Vaters Gehirn die funkelnd geistreichen und praktischen Ideen sofort in Prophezeiungen umwandelte und die aufs Weltganze bezogenen Visionen stets umgehend zu Erfindungen vereinfachte. Als er zum Beispiel später das Grundprinzip der Zeitreise entdeckte, und zwar ungefähr zeitgleich mit den Amerikanern, konnte er damit lange Zeit nicht mehr anfangen als diese: Er wollte einfach nur eine Zeitmaschine bauen.
In dieser Nacht, die in der Erinnerung später zur Nacht von Vaters Flucht vereinfacht wurde, kam die erste Version zustande: Aus einer kleinen Idee wurde eine große Vision. Kaum hatte Vater Lineal, Stift und Papier hervorgeholt, um einen Plan fürs Dach zu zeichnen, hatte er die Detailfrage, in welchem Winkel die beiden Seiten des Giebeldachs zueinander stehen sollten, schon hinter sich gelassen. Seine Gedanken bekamen Flügel, und auf dem Papier entstand die Skizze zu einem verblüffend schönen Wunderbau: Eine Glashalle, darin der alte Kirschbaum, eine noch zu pflanzende Palme, ein Steingarten, ja, sogar eine kleine künstliche Quelle, die durch Letzteren plätschern würde. In der Glashalle hatte sich Vater große, containerartige Holzkästen mit Fenstern und Türen erträumt. Diese sollten die Zimmer der Familienmitglieder, Küche, Bad und Toilette werden. So würde man die Zimmer (mit Ausnahme von Bad und Toilette) innerhalb des Hauses bewegen können, wodurch der Innenraum der Glashalle beliebig veränderbar wäre. Vom Garten oder von der Straße aus wäre es auch ein schöner Anblick, und Mutter würde sich besonders freuen, da sie eine begeisterte Wohnungsumgestalterin war. Natürlich war sich Vater vollkommen dessen bewusst, dass, bevor dieser Wunderbau entstehen konnte, die noch intakten Teile unseres Hauses abgerissen werden müssten. Vom Geld ganz zu schweigen. Zu dem Zeitpunkt hatte er das Planen des Umbaus schon seit Monaten vor sich hergeschoben, weil er spürte, dass dabei ein nicht realisierbares Gebäude herauskommen würde. Jetzt, als die Skizze des Wunderbaus fertig war, war er kein bisschen überrascht: Sein Gehirn hatte ihn wieder einmal besiegt. Lustlos legte er den Stift aus der Hand.
Andere würden sich in so einer Situation vielleicht betrinken oder toben. Oder fliehen. Vaters Gehirn kämpfte jedoch zunächst noch gegen die Vorstellung der Flucht an und erteilte ihm daher nun wieder einen einfacheren, praktischen Rat: Es sei an der Zeit, eine Runde auf dem Fabrikgelände zu drehen. Vater machte sich also auf den Weg, um seinen Kontrollgang zu machen. Drei Nachtigallen sangen für ihn. Eine in der Nähe, zwei etwas weiter weg. Ansonsten war es ganz still. Hunde gab es auf dem Gelände keine.
Als Gerda kurze Zeit später am Eingang der Konservenfabrik ankam, blieb sie wie angewurzelt stehen, weil sich eine ihrer Ängste auf gespenstische Weise bewahrheitet hatte. Bei Vater war tatsächlich eine Frau. Genauer gesagt kämpfte er gegen eine. Im vibrierenden Neonlicht des Fabrikeingangs rang er vor dem Pförtnerhäuschen mit einer zerlumpten alten Frau. Der Augenblick schien eher märchenhaft als gefährlich, dabei hatte die alte Hexe einen krummen Stock in der
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