Liebe Unbekannte (German Edition)
Vater zurück, wodurch er den kleinen Vorteil ausnutzen wollte, dass sich Gerdas Frage formal auf die alte Frau bezog und nicht auf das gesamte Schicksal unserer Familie. Jedoch wussten beide, dass es eigentlich um Letzteres ging.
Die Nachtigallen sangen. Das erleichterte Vater die Antwort ein wenig.
Fast alle kannten die alte Frau, und das nicht nur in Nyék. Auch in Budapest war sie eine berüchtigte Gestalt. Meist lief sie allein durch die Straßen der Innenstadt und rief: „Szalai! Szalai! Wo zur Hölle steckst du, Szalai?“ Wenn sie gerade nicht allein unterwegs war, war Szalai bei ihr. Dann eilten sie zu zweit irgendwohin, wobei sie fluchten und stritten. Aber manchmal tauchte Szalai auch allein auf. Da er nicht herumbrüllte, sondern nur still durch die Straßen der Stadt hastete, glaubte man, er sei auf der Flucht vor der Alten, dabei war der Hauptgrund ein anderer. Diesen band Szalai jedoch nicht jedem auf die Nase. Nur die Eingeweihten wussten, dass nicht nur er ständig von der Alten gesucht wurde, sondern er selbst auch auf der Suche war. Und zwar nach nichts anderem als dem
Verfluchtengott
. Ihn suchte Szalai bereits seit vielen Jahrzehnten, zumindest war es das, was er bei einem Glas Spritzer denen erzählte, die bereit waren, ihn nach dem Gegenstand seiner Suche zu fragen. Aus diesen Leuten wurde der äußere Kreis der Eingeweihten. Sie vermuteten, dass Szalai vor langer Zeit einmal etwas weggenommen worden sei, weswegen sein Leben den Bach runtergegangen, er zunehmend verwahrlost und nun auf der Suche nach dem sei, was man ihm damals weggenommen habe – vielleicht eine gut gehende Schneiderwerkstatt (Beispiele für so etwas gab es ja). Vater gehörte jedoch dem inneren Kreis an und wusste, dass Szalai genau das suchte, was er sagte. Den
Verfluchtengott
. Das heißt – das Wort von Szalais Verbitterung befreit – Gott. Auch Vater in seinem Pförtnerhäuschen hatte er bei dieser Suche gefunden, und seitdem besuchte er ihn hin und wieder. Wenn er gerade bei Sinnen war, unterhielten sie sich ein bisschen. Dieser Szalai schlief jetzt zugedeckt im Pförtnerhäuschen. Vater hatte ihn hingelegt, damit er nicht draußen auf dem Boden schlief und erfror, denn es war eine kalte Nacht. Die Alte hatte ihn also am richtigen Ort gesucht.
Dies schilderte Vater Gerda, aber natürlich nur in groben Zügen. Über Szalai zum Beispiel sagte er einfachheitshalber nur, er sei ein religiös besessener Mensch.
„Und ich wollte nicht drinnenbleiben“, sagte er abschließend. „Der Duft, den Meister Szalai ausströmt, erinnert nicht gerade an eine Blumenwiese.“
Er lächelte vielsagend, und Gerda kicherte brav. Langsam beschlich Vater die Hoffnung, dass er vielleicht doch um das
Vater, so kann es nicht weitergehen
herumkommen würde. Er knipste die Taschenlampe an und zeigte Gerda durch das Fenster des Pförtnerhäuschens den schnarchenden Szalai.
„Eine schöne Beute“, sagte Gerda anerkennend. „Aber wer ist das eigentlich? Er kommt mir sehr bekannt vor.“
Sie tat so, als würde sie Szalai, der im Halbdunkel schlief, nicht erkennen, und Vater wollte dem Schlafenden nicht ins Gesicht leuchten.
„Du hast sie sicherlich schon gesehen. Zum Beispiel bei den Zisterziensern.“
In Vaters Stimme lag ein kleiner Vorwurf oder auch nur eine gewisse Traurigkeit darüber, dass Gerda einen der bedeutendsten Herumtreiber von Budapest nicht erkannte, ihm es also offenbar nicht gelungen war, sie in Nyék zu einem kessen Großstadtmädchen zu erziehen – wenn er gewusst hätte, dass Gerda bereits seit Jahren heimliche Ausflüge nach Budapest machte, hätte er sich aber auch nicht gefreut: Erika und sie fuhren manchmal nach (oder sogar statt!) der Schule in die Stadt, um einen Spaziergang in der Váci Straße zu machen. Dieses Geheimnis wollte Gerda nicht lüften, daher kam ihr die Zisterzienserkirche ganz gelegen, weil wir Szalai dort gemeinsam gesehen hatten, die Erinnerung daran also völlig legal war.
(Ich war auch dabei gewesen und habe es gesehen: Einige Jahre zuvor hatte sich in der Zisterzienserkirche des heiligen Emmerich die Masse in der Mitte gespalten, Szalai durchgelassen, der feierlich langsam bis zum Altar geschritten war und dort ganz laut geniest hatte.)
„Ach was?!“, wunderte sich Gerda, sich nun legal erinnernd. „Die wohnen auch in Nyék?“
„Offenbar“, sagte Vater. „Neuerdings kommt jeder aus Nyék.“
Ja, neuerdings kam jeder aus Nyék. In Nyék gab es eine Menge Mietmöglichkeiten, in
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