Liebe Unbekannte (German Edition)
es aus: Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe.
Die Tatsache an sich, also, dass diese riesigen Gebiete über eine Art gemeinsame Seele verfügen, habe natürlich nicht ich entdeckt. Das weiß man seit Langem. Diese Gegend hat man schon
Osteuropa, Mittel- und Osteuropa, Ostmitteleuropa, Habsburgisches Reich, Donaumonarchie
genannt, wobei alle diese Namen etwas anderes bedeuten – und doch auch etwas Gleiches, nämlich eine verfluchte Gegend in der Mitte Europas. Hier wurde der fatale Neid geboren, dem die Weltkriege entwuchsen, und damit Europas Untergang. In Onkel Olbachs großem Werk, dem
Aufstieg des Morgenlandes
, geht es auch um dieses Gebiet:
Seitdem Europa im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Kinder in die Schulbänke getrieben hat, gibt es im gesamten Einzugsbereich der Donau kein einziges Dorf, in dem nicht jeder wüsste, dass das Wasser des kleinen Bachs am Ende seines Gartens irgendwann in die Donau fließt. In den Strom, der aus der zivilisierten Welt hinaus fließt, von Westen nach Osten, in das nahezu abflusslose, ölige Schwarze Meer. In das unbewegliche Schwarze Meer des Ostens, der Rückständigkeit. Das weckte in den im Donaubecken lebenden Menschen von Bayern bis in die Bukowina eine Begierde, eine gemeine und beißende Begierde, die heute noch besteht und wächst. Es ist eine kleinliche, perfide, zur Zerstörung anstichelnde Begierde, genährt vom Gefühl, aus allem Großen, Wichtigen und Schönen der Welt ausgeschlossen zu werden. Sie glauben, immer und immer wieder aus allem ausgeschlossen zu werden und dass sich daran auch niemals etwas ändern werde
.
Das ist der Anfang von
Der Aufstieg des Morgenlandes
.
Der erste Band fand in den dreißiger Jahren große Beachtung. Onkel Olbach sagte darin, es werde wieder einen Krieg geben und man könne es nicht verhindern. Nein, er sagte es nicht, er schrie es in die Welt hinaus. Seine ohnmächtige Wut brannte sich beinah durch die Seiten. Onkel Olbachs Sätze sprühten Funken, er hasste den Krieg, 1918 war er ein Jahr an der italienischen Front gewesen. Außerdem war er auch von einer Begierde nach allem Großen und Schönen der Welt erfüllt, da, während er den
Aufstieg des Morgenlandes
schrieb, um seinen Tisch zwei kleine Kinder herumrannten, und Mara, deren Aufgabe es gewesen wäre, wenigstens dafür zu sorgen, dass er in Ruhe arbeiten konnte, nur mit verstocktem Gesicht im Sessel saß und ihren dritten Sohn, Emmas Vater Iván, erwartete. „Arbeite du nur ruhig, Endre.“ Sie blieb sitzen und sah Onkel Olbach an. Nahm ihre Augen nicht von ihm. Und obwohl die Posaunen des Jüngsten Gerichts in seinem Kopf tönten, brachte er seinen Söhnen lieber Schachspielen bei, schrieb lieber in der Bibliothek, im Zug, nur zu Hause nicht, doch schließlich – in den Monaten des Anschlusses – erschien der erste Band von
Aufstieg des Morgenlandes
. (Der dann auch der Letzte werden sollte.) Er wurde gelesen, besprochen, missverstanden, verboten, vergessen.
In Budapest träumt jeder von der Donau. Das Bild des riesigen, grauen Stromes, neben dem sie ihr Leben verbringen, hat sich schon längst in die Augen aller hiesigen Menschen gebrannt. Der Strom, den sie jeden Tag von den Brücken und Kais sehen. Das ist keine Seine, ein kleiner Fluss in einer Großstadt, auch keine Themse, ein kleiner Fluss, der den Gezeiten unterliegt, alle halben Tage anschwillt und sich dann wieder zurückzieht. Die Donau ist ein großer Fluss, viel zu groß für die Stadt, und zieht sich nie zurück: Sie reißt nur alles mit sich, schwemmt es weg, ununterbrochen, hin zum Rand der Welt. Und in der Nacht müssen wir uns am Bett festhalten oder an dem, der neben uns liegt, damit sie nicht auch uns wegschwemmt. Sie lässt uns unruhig schlafen. Es ist genau so, wie es in dem vergessenen Werk,
Der Aufstieg des Morgenlandes
, geschrieben steht.
Wenn ich mich also damit brüsten würde, diese dämonischen Reisen der nächtlichen Donau bemerkt zu haben, würde ich nicht die Wahrheit sagen. Ich habe lediglich das Glück, jetzt, im 21. Jahrhundert, wo ich versuche, mein Leben zu verstehen, all das bereits aussprechen zu dürfen. Zu sagen, dass es sich um einen Dämon handelt. Onkel Olbach wurden in den dreißiger Jahren durch die Gesetze der Vernunft, die Prinzipien der Aufklärung und einer Menge anderer Faktoren noch Grenzen gesetzt, die heute keine Gültigkeit mehr besitzen. Obwohl auch er wusste, dass es sich um einen Dämon handelte, konnte er es nicht schreiben, da damals in der Welt noch
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