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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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komm schon. Was weiß sie nicht?“ Vater wurde wütend. „Es ist ausgeschlossen, dass sie es nicht weiß. Sie weiß ganz genau, dass man für so eine Stelle politisch tragbar sein muss. Für mich ist das vollkommen aussichtslos.“
    „Ja, aber sie kann einem Fremden schlecht auf die Nase binden, dass du vorbestraft bist“, stellte Gerda ihre brillante Logik unter Beweis. „Selbst wenn das Onkel Olbach ist. Vor ihm mussten wir uns naiv stellen und so tun, als stehe dem nichts im Weg, dass du die Stelle bekommst. Außerdem glaube ich, dass der Eintrag über deine Vorstrafe schon längst getilgt wurde, und nur wir denken, dass da noch etwas steht.“
    Auf die letzte Bemerkung ging Vater gar nicht mehr ein. Er konzentrierte sich lieber darauf, die Anklagepunkte gegen Mutter zusammenzufassen.
    „Demnach“, zog er die Schlussfolgerung aus dem Gesagten, „haben die Olbachs untereinander schon darüber gesprochen. Das heißt, unsere Familie ist häufiger Thema bei ihnen. Also muss Mutter sie manchmal besuchen und sich beschweren, was bedeutet …“
    „Das ist ihnen mit Sicherheit erst in dem Moment eingefallen“, unterbrach ihn Gerda leichtsinnig. „Sie waren völlig außer sich. Die Armen wussten nicht, was sie Mutter noch sagen sollten.“
    „Wieso?“
    „Nun ja, um ehrlich zu sein, weinte sie zu dem Zeitpunkt schon seit einer ganzen Weile“, gestand Gerda. Dann fügte sie rasch hinzu: „Aber jetzt geht es ihr gut, sie hat sich beruhigt und schläft. Bevor ich hergekommen bin, habe ich extra noch einmal nach ihr geschaut.“
    Nun versuchte sie, Vater davon abzubringen, Mutter am nächsten Tag zur Rechenschaft zu ziehen.
    „Es ist wirklich alles in Ordnung. Nur Tomi war niedergeschlagen, weil er immer glaubt, Emma und ihre unvergleichlich schöne Mutter bei den Olbachs anzutreffen.“
    Vater zog eine kleine verächtliche Grimasse, weil er mich nicht mochte, wofür er jeden Grund hatte, sich aber trotzdem schämte.
    Dann geschah etwas Seltsames. Ja, es war mehr als seltsam. Aber auch weniger als das. Es erinnerte an eine Naturerscheinung, am ehesten vielleicht an den Wind, gleichzeitig hatte es aber auch etwas Übernatürliches an sich. Es war wie ein lang anhaltender Windstoß, bei dem die Bäume jedoch regungslos blieben. Die Konservenfabrik lag ungefähr in mittlerer Höhe eines sanften Hügelhangs, wodurch bereits von Weitem zu hören war, wie das Geschehen von unten, von der Donau her, nahte. Oder war es gar nicht zu hören? Wer so etwas noch nie erlebt hat, dem kann man es nur schwer beschreiben.
    Die Donau hat eine seltsame Angewohnheit, die ich Jahre später, als mir keine andere Wahl mehr blieb als nachzudenken, weil es um den Sinn meines Lebens ging, selbst entdeckte: Manchmal, meist nachts, wenn alle schlafen (aber nicht immer, in außergewöhnlichen Fällen, zum Beispiel im Krieg, auch tagsüber), steigt sie, tritt aus ihrem Bett und überflutet für einige Stunden ihr gesamtes Zuflussgebiet vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer. Sie steigt hinauf in die Alpen, bis zu den Gletschern, auch in die Karpaten, überflutet Tschechien, Mähren, schaut sich die Bukowina an, den halben Balkan, aber auch Schwaben, die Randgebiete von Franken und Bayern. Das sind alles wichtige Gegenden, mit einer furchtbaren Vergangenheit und einer trostlosen Gegenwart. Mutter- und vaterlose, verwaiste, merkwürdige, gespenstische Gebiete. Ihr gemeinsamer Dämon ist die Donau. Sie ist ein guter Dämon, nur ist ihre Macht zu gering, um den Menschen auf dem ihr überantworteten riesigen Gebiet helfen zu können. Das Einzige, was sie machen kann, ist, sie nicht zu verlassen. Deshalb besucht sie sie hin und wieder, hört sich ihre Klagen an, fühlt mit ihnen. Sie unterhält sich mit den ihr anvertrauten Seelen. Flüstert ihnen so manches zu.
    Diesen Besuch darf man natürlich nicht wortwörtlich verstehen, es ist kein Wasser, das dabei ein Viertel von Europa überflutet, sondern – Seele. Die Donau selbst ist eine Art gemeinsame Seele. Deshalb muss man sich den Besuch auch nicht so vorstellen wie eine herkömmliche Sintflut. Das Phänomen erinnert eher an die Gezeiten. Nur läuft es viel schneller ab. Manchmal aber auch langsamer. Es erinnert auch an die Zeit. Aber es ist keine Zeit. Eher ein Seelenströmen. Wahrscheinlich ist das immer noch die genaueste Bezeichnung.
    Das war es, was ich Jahrzehnte später entdeckte, als mir keine andere Wahl mehr blieb als nachzudenken, weil es um den Sinn meines Lebens ging. Sprechen wir

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