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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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über die Schulter seiner Schwester auf das dunkle Fenster gegenüber und die nach unten führende Treppe.
    »Was du dir für eine Mühe gemacht hast, nur um meinen Film zu verhindern«, sagte er. »Um ihm zu vergeben, sollte ich sagen. Das war eine richtig gute Tat. Du bist wirklich eine Wucht. Gut gemacht! Aber ich bin ein bisschen angeschlagen, Schwesterherz. Ich muss los.«
    Ritchie setzte sich in eine schäbige Bar in der Nähe, trank in rascher Folge drei doppelte Whisky, ging und rief ein Taxi. Der Fahrer zögerte zuerst, die gut hundert Kilometer nach Petersmere zu fahren, bis Ritchie ihm ein Bündel roter Banknoten zeigte.
    Mehr als alles andere wollte Ritchie seine schlafenden Kinder küssen und zu seiner Frau ins Bett steigen. Aber Milena hatte Dan und Ruby übers Wochenende zu Karins Eltern gebracht. Das Taxi setzte Ritchie vor dem Eingangstor ab, und er ging zu Fuß die Einfahrt hinauf. Es war lange nach Mitternacht, und im Studioblock brannte noch Licht. Er hörte Musik. Er trat ans Fenster und schaute hinein. Karin saß mit Kopfhörern auf einem Hocker und fingerte sich durch eine schwierige Akkordfolge, und einer der Jungs von The What kauerte im Schneidersitz neben ihr auf dem Fußboden und schrieb etwas in ein Notizbuch. Sie blickte auf, lächelte unsicher, als ob jemand etwas zu ihr gesagt hätte, von dem sie glaubte, dass es wahrscheinlich lustig gewesen war, obwohl sie es nicht gehört hatte, und nahm die Kopfhörer ab. Ritchie sah ihren lächelnden Mund das Wort »Was?« formen, und jemand, den er nicht sehen konnte, musste die Bemerkung wiederholt haben, denn sie lachte, schaute zu dem Jungen hinunter und sagte etwas zu ihm, als er gerade einen Schluck Dr Pepper nahm. Er lachte und hielt sich den Handrücken vor den Mund, um nichts zu verspritzen.
    Ritchie ging zum Haus. Ein leises Tackern von Bass- und Snare-Drum ertönte hinter ihm in der Dunkelheit, als ob in der Ferne unsichtbar ein Feuerwerk abgeschossen würde. Eine Traurigkeit, wie er sie noch nie erlebt hatte, bebte in seiner Brust, erschreckend in ihrer Tiefe und Unabänderlichkeit, und ihm kam wieder der Gedanke an Selbstmord, nicht als der Wunsch, seinem Leben ein Ende zu bereiten, sondern als Gegenkraft zu dieser Traurigkeit, als ob er durch die glaubhafte Vorstellung, seinem Leben ein Ende zu bereiten, die Traurigkeit verschrecken, sie klein und unbedeutend erscheinen lassen könnte. Doch als sein Vorsatz, etwas zu unternehmen, einmal gefasst war, musste er unwillkürlich denken: Was, wenn? Alle Gipfel und Täler um ihn herum wären eingeebnet: seine Traurigkeit, Becs Freude, Karins Fröhlichkeit. Was seine Kinder betraf, wie hatte sein schlauer Sohn doch gesagt: »Wenn du ohne Vater so gut klargekommen bist, warum ist es dann gut, dass ich einen habe?« Und die Traurigkeit stieß wieder in ihn hinein wie eine Krallenhand, die sich durch den Körper nach seinem Herzen ausstreckte, um es fest zu packen und ihn unter die Erde zu zerren.
    Er ging in die Waschküche, wo er die alte Gartenschaukel verstaut hatte, nachdem sie abgerissen war. Das Seil lag zusammengerollt unten in einem Schrank, und er streifte es sich über die Schulter und nahm es mit nach oben. Das Licht in seinem Atelier war unpassend hart, und er schaltete es ganz aus bis auf eine kleine Tischlampe. Er ließ die schwere Seilrolle unter den Dachpfetten auf die Dielen fallen und blickte empor.
    Eine Weile musste er sich der technischen Seite des Problems schändlich geschlagen geben, bis er erkannte, dass er zuerst ein Ende des Seils an einem festen Gegenstand auf Bodenhöhe anbringen musste. Er schlang es um einen Heizkörper und ging dann daran, am anderen Ende eine Schlinge zu knüpfen. Wie machen sie bloß im Film immer diese Schlingen, dachte er, wo sie das Seil zehnmal herumwickeln? Das bringen sie einem bei den Pfadfindern nicht bei. Er machte mit einem einfachen Laufknoten eine Schlinge und versuchte, sie über den Dachbalken zu werfen. Das Seil war schwer, und bei seinen ersten Versuchen warf er es nicht hoch genug. Beim fünften Versuch klappte es, und es kam auf der anderen Seite herunter. Einen Moment lang war er stolz auf seinen Erfolg. Aber die Schlinge hing nicht weit genug herunter, dass er seinen Kopf hindurchstecken konnte.
    Er holte eine kleine Trittleiter, und darauf stehend konnte er sich die Schlinge bequem über den Kopf streifen und fest an den Hals ziehen. Die rauen Stränge drückten gegen seinen Kehlkopf, und er erkannte entsetzt, dass das

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