Liebe und andere Parasiten
Seil genau die richtige Länge hatte, falls er wirklich beabsichtigte, sich umzubringen.
Er schob rasch die Finger hinter das Seil, um es zu lockern und den Kopf hinauszuziehen, aber der Laufknoten war beim Zuziehen an einer Verdickung hängen geblieben, sodass er sich nicht ohne Weiteres lösen ließ. Ritchie bekam es mit der Angst zu tun und zerrte energisch mit beiden Händen an der Schlinge. Sie lockerte sich ein klein wenig und rutschte ihm knapp hinter die Ohren, aber sein heftiges Zerren und seine Wackligkeit wegen des Alkohols, den er noch im Blut hatte, hatten zur Folge, dass er das Gleichgewicht verlor. Er fühlte, wie die Trittleiter unter ihm wegrutschte, und suchte mit den Füßen zappelnd nach einem sichereren Stand, trat aber stattdessen die Leiter um, sodass sie hinfiel und er mit dem Seil ums Kinn am Dachbalken baumelte. Sein Stoffwechsel reagierte auf Angst mit einem Energieschub, und sein Instinkt sagte ihm, dass sein Leben davon abhing, alle Kraft in seine Hände zu legen, die immer noch zwischen Seil und Kopf klemmten. Er musste den Laufknoten und sein eigenes Schwergewicht überwinden, um die Schlinge über Kinn und Nase zu bekommen und auf den sicheren Boden zu fallen. Vor Angst und Schmerz wimmernd und mit den Beinen strampelnd, zog er unter Anspannung seiner sämtlichen Oberkörpermuskeln wieder und wieder an der Schlinge.
Er merkte deutlich, dass seine Kräfte zur Neige gingen, und er sammelte sie zu einer letzten großen Anstrengung. Er schrie auf, das Seil schrammte ihm brutal über den Unterkiefer, traf ihn mit solcher Gewalt an der Nase, dass ihm war, als würde sie abgerissen, und er fiel auf den Fußboden, wo er lange weinend liegen blieb.
Er rappelte sich auf, band das Seil vom Heizkörper los und rollte es ordentlich auf. Er wusch sich das Gesicht. Es gab keinen Spiegel im Atelier, wo er sich hätte betrachten können. Er konnte keine Verwundung fühlen, kein aufgerissenes Fleisch, kein Bluten, nur ein scharfes Brennen um den Hals.
Immer noch schniefend und sich die Nase putzend, ging er zum Kühlschrank und nahm einen Schokoladenpudding heraus. Er verzehrte zwei Portionen mit einer Flasche Bier und trat an die Regale, wo er seine Filme aufbewahrte. Er fand die DVD , die er nach seinem ersten Treffen mit Colum O’Donabháin bestellt, aber nie angeschaut hatte. Er holte sich noch zwei Becher und noch eine Flasche und setzte sich hin, um Armee im Schatten zu gucken. Nach einer halben Stunde kam er zu den Szenen, die die Hinrichtung des Verräters Dounat durch die Résistance zeigten.
Ritchie beobachtete Dounat im Auto, wohl wissend, was gleich mit ihm passieren würde, und er schluckte und wischte sich beklommen mit dem Daumen über die vollen Lippen.
Der Fahrer hielt an einer windigen Strandpromenade vor der hohen Brandung des Mittelmeers. Dounats frühere Genossen Gerbier und Felix führten den Verräter in eine schmale Gasse, jeder an einem Arm. Ritchie konnte den kalten Wind vom Meer fühlen.
Sie betraten ein gemietetes Haus. Darin befand sich ein weiterer junger Mann, Claude, genannt Le Masque. In einem kahlen, verdunkelten Zimmer teilte Le Masque Gerbier mit, dass er alles für das Verhör vorbereitet habe. Er grinste, schaukelte auf den Fersen und massierte sich Lob heischend mit der rechten die linke Hand, als redete er über Vorbereitungen für ein Fest: Er hatte Stühle, Tisch, Papier bereitgestellt.
Aber Gerbier sagte, es werde nicht zu einem Verhör kommen. »Das hier wird’s geben«, sagte Felix und zog eine Pistole.
Le Masque sagte, es sei sein erstes Mal. Gerbier drehte sich auf dem Stuhl zu ihm um und sagte aufgewühlt: »Das ist auch unser erstes Mal. Siehst du das nicht?«
Ritchie nahm einen großen Schluck Bier. Er hatte tiefes Mitgefühl mit diesen Figuren: mit Le Masque – wie konnte er danebenstehen und zusehen, wie Dounat, ja, ein Verräter, aber ein gut aussehender, gut gekleideter junger Mann wie er selbst, getötet wurde? Und Gerbier, der so erfahren gewirkt hatte, gestand plötzlich, dass auch ihm davor graute, was getan werden musste!
Sie unterhielten sich darüber, wie sie den Verräter töten sollten. Felix fragte, ob sie ihm nicht einfach den Schädel einschlagen sollten, und der Verräter hob die Hände, wie um ein tonnenschweres Gewicht aufzuhalten, das auf ihn zurollte. Gerbier ordnete an, ihn zu knebeln, und Felix und Le Masque, der tapfere Le Masque, stopften ihm ein Taschentuch in den Mund. Der Verräter begann zu wimmern, und sie
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