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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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einem Gesicht zum anderen und ließ ein Winseln hören wie ein gequältes Tier.
    Matthew faltete die Hände, senkte den Kopf, schloss die Augen und sagte: »Lieber Gott, wir danken dir –«
    »Einen Schluck Wein, Alex?«, sagte Harry, stand auf und hielt seinem Neffen die Weinflasche hin, nicht ohne sie vernehmlich an Gabel und Teller klirren zu lassen.
    »– für Speise und Trank, die du uns heute gegeben hast. Amen.«
    »Abrakadabra«, murmelte Harry.
    »Ich nehme einen Schluck«, sagte Alex.
    Jenny seufzte, schniefte und sagte ganz leise mit piepsiger Stimme: »O Gott.«
    Harry begleitete Alex lange auf seinem Werdegang, bei seinem Masterabschluss, seiner Doktorarbeit und weiter, und schluckte jedes Mal seine Gefühle hinunter, wenn der Neffe mehr von seiner Arbeit verstand als Harry selbst. Allerdings fand er, dass seinem Neffen das Durchsetzungsvermögen fehlte. Alex’ kontemplative Art, die träumerisch und entrückt wirkte, und seine schwärmerischen Anwandlungen, die so unvorhersehbar waren, schienen ihm für die Arbeit im Team ungeeignet zu sein und ihn als Führungskraft unbrauchbar zu machen. Doch als Alex mit Ende zwanzig aus Amerika nach London zurückkam, nach vorauseilenden Gerüchten aus der Johns Hopkins University, die Doktoranden würden ihn schon den »großen Meister der Zellfunktion « nennen, suchten andere Forscher seines Fachgebiets ihn auf und hörten sich an, was er zu sagen hatte. Sie steckten bis zum Hals in Stipendienanträgen, Slideshow-Präsentationen, Sitzungen, Gremien, Konferenzen, Komitees und dem zermürbenden Londoner Konkurrenzhedonismus, und ein Mann, der anscheinend nichts tat, als zu denken, schreiben, lehren und hin und wieder wunderliche philosophische Thesen aufzustellen, kam ihnen vor wie ein vom Himmel gefallener Visionär, noch bevor sie seine Theorien überhaupt zur Kenntnis genommen hatten. Seine schottische Herkunft verlieh ihm ein Flair der Andersartigkeit, auf das die Londoner Wissenschaftler, aus Großstädten aus aller Welt zusammengeströmt, reagierten, als hätte er dort oben von einem besonderen Wasser getrunken. Es wurde gemunkelt, dass Alex sich als Kind selbst Mathematik und Zellchemie beigebracht habe.
    In den zehn Jahren nach der Rückkehr seines Neffen hatte Harry Alex’ Renommee als Führungsstärke missverstanden und seine Autorität in wissenschaftlichen Dingen mit Autorität in der Menschenführung verwechselt. Jetzt, da seine Diagnose ihm nur noch kurze Zeit zu leben ließ, versteifte er sich darauf, seinen Posten an seinen Neffen weiterzugeben. Er führte am Institut eine Kampagne, um sicherzugehen, dass das Kuratorium bei aller Ablehnung des Nepotismus doch alles tun würde, um Alex als seinen Nachfolger zu gewinnen. Er traf auf keinen großen Widerstand. Das Kuratorium was sich einig, dass Alex als Erster dafür infrage kam.
    Die Kuratoren ließen Harry wissen, ihres Erachtens sei seine Krankheit schrecklich ungerecht.
    »Keinen Krebs zu kriegen ist genauso ungerecht«, sagte Harry. »Aber darüber beschwert sich niemand.«
    24
    Vor dem U-Bahnhof Whitechapel, unter der gestreiften Markise eines Gemüsestands, strich eine vollverschleierte Frau mit den Fingern, die aus Sittsamkeit in schwarzen Handschuhen steckten, über die höckerige Schale einer Bittermelone. Der Händler beobachtete sie. Er hatte seine Lederjacke bis zum Hals zugezogen und die Hände tief in den Taschen stecken und scharrte und stampfte mit eisigen Füßen. Die Markise flatterte im Wind, und der Rettungshubschrauber knatterte am Himmel zum Dach des Royal London Hospital. Der Gemüsehändler rechnete nicht damit, dass die Frau seine Waren kaufte. Sie war eine Melonenstreichlerin; sie wollte seine Aufmerksamkeit auf ihre Finger lenken, denn sie wusste, dass, je mehr sie ihre Haut verbarg, ihn das umso mehr anmachte.
    Sein Blick schweifte zum U-Bahn-Eingang, wo ein kleiner Hund erschien, angezogen wie ein Gladiator. Dicht an seinem Ohr rief ein bulliger junger Muslimprediger in schwarzer Armyjacke, Flecktarnhose, Springerstiefeln und frisch gewachsenem erstem Vollbart in einem fort: »Dem Tod läuft keiner davon!« Ein paar halbwüchsige Koranschüler standen in einer Traube am Rand des Bürgersteigs, dünn, nervös und großäugig wie Rehe, in knöchellangen Kutten, Parkas und gehäkelten weißen Gebetsmützen. Der Prediger, der sich so postiert hatte, dass jeder, der die Whitechapel Road zum Krankenhaus überqueren wollte, an ihm vorbeimusste, verteilte ein Flugblatt,

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