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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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gedruckt auf dem Inkjet der Madrasa.
    »Dem Tod läuft keiner davon!«, brüllte er. Ein glatzköpfiger alter Kafir im Mohairmantel und mit fleischigem, birnenförmigem Gesicht schritt großspurig auf ihn zu. Der Prediger blickte auf das Tier, das der Kafir an der Leine führte, einen kleinen weiß-braunen Hund mit nietenbesetzter Lederjacke.
    »Ich laufe nicht davon«, sagte der Kafir, der dem Prediger fast die Nasenspitze ins Gesicht gestoßen hatte, während dieser von dem Hund abgelenkt gewesen war. »Meinst du, ich würde dieses Leichenhaus betreten, wenn ich Angst vor dem Tod hätte?« Er deutete mit dem Kopf auf den schmutzigen gelben Backsteinbau des Krankenhauses und marschierte darauf zu.
    »Dann hör dir an, was ich zu sagen habe, Bruder!«, rief der Prediger ihm nach. Wie keck der Kafir auf ihn zugekommen war, dachte er, und wie armselig er jetzt von hinten aussah, einsam und allein mit seinem aufgemotzten Köter an der Seite.
    Der Prediger wandte sich wieder den Scharen zu, die sich aus dem U-Bahn-Maul ergossen. »Dem Tod läuft keiner davon!«, schrie er, und ein hochgewachsener Kafir sah ihn durchdringend an und nahm im Vorbeigehen eines seiner Flugblätter mit. In seinen Augen erkannte der Prediger etwas von dem alten Glatzkopf von vorher. Sahen sie langsam alle gleich aus? »Massig gebeutelte Kafirn heute«, sagte er, und die Koranschüler kicherten, wiederholten das Wort »gebeutelt« und tänzelten auf der Bordsteinkante.
    Alex faltete das Flugblatt zusammen, das der Prediger ihm gegeben hatte, überquerte die Straße, trat durch den Portikus des Krankenhauses und fragte an der Rezeption nach Harry, der an diesem Vormittag hier einen Termin haben sollte. Man könne ihm leider nicht helfen, war die Antwort: »Patientenschutz «.
    Alex sah sich in dem fast leeren Warteraum um und trat dann durch die Schwingtür am anderen Ende in einen kleinen öffentlichen Garten mit einer Bank, einer Handvoll kümmerlicher Bäume und einer Bronzestatue auf einem hohen Sockel. Überragt war der Garten von braunen, mit Netzen bespannten Krankenhausgebäuden. Er war verkrampft und vor Ärger halb blind.
    Tief in einem Winkel der menschlichen Zelle hatten Alex’ Schweizer Kollegen eine Gruppe von Enzymen entdeckt, deren Sinn und Zweck ihm nach zehn Jahren Arbeit aufgegangen war: Sie waren Zeitzähler, die die Geschwindigkeit der Veränderungen auf der mikroskopischen Ebene maßen. In dem Aufsatz, der in Nature erscheinen sollte, benutzte er dafür den Begriff Chronase-Komplex. Harrys Expertenzellen, stellte Alex fest, funktionierten nicht deshalb, weil sie das verschiedenartige Aussehen der Krebszellen erkannten; sie registrierten, dass Krebszellen in der falschen Geschwindigkeit operierten, und bestimmten ihnen den Tod. Damit eröffneten sich der Medizin neue Welten, aber es war die Feinheit des chemischen Mechanismus, an der Alex seine Freude hatte, und die Vorstellung, dass jeder Mensch sechzig Billionen Uhrwerke in sich trug, die so kleine Zeitspannen maßen, wie keine Maschine von Menschenhand das vermochte. Er schloss den Aufsatz mit der Überlegung ab, dass der Organismus bei der Zeugung nicht unbedingt auf null zurückgesetzt werde; dass die Zählung möglicherweise ohne Unterbrechung seit dem Moment fortlaufe, in dem die Evolution vor ein oder zwei Milliarden Jahren in Gang gesetzt worden war. Damit lehnte er sich schon ziemlich weit zum Fenster hinaus. Jetzt wollte Harry, der eine frühe Fassung gelesen hatte, ihn dazu bewegen, sich noch weiter hinauszulehnen. Für sein Empfinden hatte Harry sich an seiner Innenwelt vergriffen.
    Maria hielt Alex vor, dass er zu viel Zeit in dieser Welt verbrachte. Er führe kein normales Erwachsenenleben, meinte sie; wenn er mal aus sich herauskomme, dann nur als Kind, angezogen von einem banalen neuen Reiz, einer bunten Farbe, einem auffälligen Muster oder einer eingängigen Melodie, oder als sorgengeplagter alter Mann, bis ins Mark erschüttert von einem Gefühl, das ihm wie das Ende der Welt erschien: Liebe, Zorn, Eifersucht, Nachwuchswunsch. »Ich weiß nicht, mit wem du dich nach mir zusammentun wirst«, sagte sie, »aber wenn sie gern deine Aufmerksamkeit hätte, sollte sie immer ein Kazoo und ein Gewehr griffbereit haben.«
    »Das ist Arbeit«, hatte Alex gesagt. »Ich forsche. Ich werde dafür bezahlt, dass ich geistesabwesend bin.«
    Alex setzte sich auf die Bank und faltete das Stück Papier auf, das der Prediger ihm gegeben hatte. Die Menschen sterben nicht an

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