Liebe und andere Schmerzen
diese Stunde gewählt, denn es war noch Siestazeit und kein Mensch begegnete mir. Mit beschleunigtem Puls blieb ich vor ihrem Haus stehen. Das gefürchtete Küchenfenster war nur angelehnt, die bestickte Gardine dahinter aber zugezogen. Ich zögerte ... Vielleicht hielt sie auch ihren Mittagsschlaf? Kosta hatte mir allerdings gesagt, dass man jederzeit bei ihr den Türklopfer betätigen konnte. Sofern sie allein war, machte sie auf. Zaghaft hob ich die bronzene Löwentatze an und ließ sie leicht gegen die Haustür fallen ... Trotzdem erschien es mir wie ein Donnerschlag, der die ganze Nachbarschaft wecken würde! Ich zuckte zusammen und wollte schon davonlaufen, widerstand aber dem Fluchtimpuls, als ich sah, dass sich rundherum nichts rührte. Aber auch aus dem Innern des Hauses kam kein Geräusch, vielleicht schlief sie doch? Ein zweites Mal würde ich es nicht wagen, den Türklopfer auch nur anzurühren...
Gerade als ich schon dachte, ich wäre vergebens gekommen, hörte ich ein leichtes Quietschen neben mir. Ich wandte den Kopf und sah Melinas Gesicht jetzt hinter ihrem Küchenfenster, die Gardine hatte sie zur Seite gezogen und das Fenster einen Spalt weit geöffnet. Unsere Blicke trafen sich – einen Moment lang schaute sie mich ausdruckslos an. Dann lächelte sie plötzlich und sagte, Gott sei Dank nicht in ihrer gewohnten Lautstärke:
»Bist du nicht der kleine Petros vom Apotheker?«
»Ich ... ja, aber klein bin ich nicht!«, brachte ich gleichermaßen unwillig und unbeholfen heraus und streckte die Schultern zurück.
Melina ließ die Gardine wieder vors Fenster fallen, und gleich darauf öffnete sie die Tür.
»Komm rein, mein Junge.« Sie zog mich sanft am Ärmel hinein und schloss sofort wieder die Tür hinter mir. »Natürlich bist du nicht klein, du bist groß geworden. Ich sagte es nur aus Gewohnheit. Ich habe dich ja lange nicht gesehen!«
Nun standen wir voreinander, im dämmrigen Licht ihres kleinen Flurs, und sahen uns an. Das heißt: Sie sah mich an, während ich den Blick verlegen auf den Terrazzoboden gesenkt hielt und überlegte, wo ich meine Hände lassen sollte. Bald schon aber half sie mir über meine Befangenheit hinweg, indem sie lachte und sagte:
»Diese Unordnung hier! Ich hoffe, du übersiehst das ...«
Jetzt erst schaute ich auf und sah mich um. Schuhe standen kreuz und quer herum, ein Stuhl erstickte unter einem Berg von Kleidungsstücken, und eine junge, schwarz-weiße Katze jagte gerade ein Wollknäuel vor sich her, dessen abgewickelter Faden wie der Faden der Ariadne durch den Flur ins angrenzende Zimmer lief.
»Komm erstmal in die Küche, mein Junge, da ist es gemütlicher. Vielleicht hast du auch Durst?«
Gehorsam folgte ich ihr in die kleine Küche mit dem berüchtigten Fenster. In der Mitte stand ein Tisch, Melina schob mir einen Stuhl zu und öffnete den Eisschrank. Aus einer Karaffe schenkte sie dann gekühltes Zitronenwasser in ein großes Glas, reichte es mir und setzte sich dann mir gegenüber an die andere Seite des Tisches. Höflich nippte ich an dem Zitronenwasser, während mein Blick in Melinas tiefen Ausschnitt fiel, aus dem ihr üppiger Busen quoll und sich offensichtlich nach mehr Freiheit sehnte. Aber nicht nur ihr Busen war beeindruckend, sie war insgesamt eine imposante Erscheinung: hochgewachsen, mit einer beleibten, aber kräftigen und straffen Figur, die sie militärisch gerade hielt, was sie noch größer erscheinen ließ. Ihr Gesicht hatte die herbe Schönheit einer Amazone – so, wie ich sie mir damals wohl vorstellte. Die welligen, aufgesteckten Haare waren blond, offenbar gefärbt, das verrieten ihre dunklen Augenbrauen. Darunter blickten zwei kastanienbraune Augen mit einem Stolz in die Welt, als führten sie das Kommando über sie! Die vollen Lippen waren stets mohnblumenrot geschminkt. Alles in allem ragte sie in jeder Hinsicht aus dem Durchschnittsbild der hiesigen Frauen heraus, sowohl mit ihrer äußeren Erscheinung als auch mit ihrem freien, selbstbewussten Auftreten. Wir schrieben das Jahr 1957, auf einer ländlichen Insel mitten in der Ägäis, die noch nicht von den Wellen nordeuropäischer oder gar amerikanischer Touristen überspült worden war.
Hier in ihrer Küche war es nun das erste Mal, dass ich sie überhaupt aus solcher Nähe sah, zumindest bewusst, und war erstaunt, wie ›normal‹ sie sich trotz ihrer für damalige Sitten aufreizenden Aufmachung benahm. Kosta hatte wohl recht gehabt, als er sagte, dass sie gar nicht
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