Liebe und andere Schmerzen
Haus!
Morgáns Lippen bewegen sich lautlos und formen endlose Sätze, vor seinen weit geöffneten Augen verzerren sich die Gestalten und verschwimmen – er hebt die zitternden Arme und ein letztes Stöhnen schraubt sich durch seine Kehle nach oben – es sickert zusammen mit einem dünnen, hellroten Rinnsal aus seinem Mundwinkel.
Die goldenen Streifen, die die Sonne durch die Ritzen der Jalousie wirft, sind inzwischen weitergewandert und legen sich nun schräg über Morgáns reglosen Körper.
Jannis Plastargias
VERSPROCHEN IST VERSPROCHEN
M enschen, denen in jungen Jahren ein hartes Schicksal widerfährt, reifen schneller, sagt man. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich, Tobias Anrather, 17 Jahre alt, ein Meter achtzig groß, blonde, kurze Haare, blaue Augen, Deutsch-LKler und Schachspieler, weiß mehr über Krankheit und Tod als andere, weil ich beides gesehen habe.
Es kehrte langsam wieder Normalität ein, jetzt, nach einem Jahr, nach einem ganzen harten Schuljahr. Zuerst hatten sie mich wie ein rohes Ei behandelt und hatten ständig gefragt: »Tobi, kannst du das?« – »Tobi, ist dir das nicht zu viel?« oder »Tobi, geht es dir auch wirklich gut?«. Sie wollten verständnisvoll sein, gaben sich Mühe, wollten tadellos korrekt sein. Aber es war nicht das, was ich brauchte. Und auch das, was sie annahmen, entsprach nicht der Wahrheit. Sie wussten nicht, wie das ist, so etwas durchzumachen. In meiner Realität war es ganz anders, als sie sich das vorstellten.
Nach den Sommerferien hatte sich einiges geändert. Das Klassen- wurde in ein Kurssystem überführt, es gab neue Konstellationen, neue Gruppen. Manche der neuen Mitschüler waren mir bisher unbekannt; sie wussten ganz sicher, wer ich war. Das ist doch der Tobi, der auf der Krebsstation lag!
»Wann greifst du dir eine Schnalle ab?«, fragte mich Manuel in seinem Slang, er wollte besonders cool erscheinen. Um ehrlich zu sein, brauchte ich dieses Jahr, um mich von dem langen halben Jahr in der Klinik zu erholen. Selbst heute, im Rückblick, könnte ich nicht entscheiden, was das Schlimmste in dieser Zeit für mich gewesen war. Häufig geriet ich in Situationen, in denen ich mir hilflos vorkam. Oft war mir etwas ›unangenehm‹: auf andere Menschen angewiesen zu sein, in meiner eigenen Kotze liegen zu müssen, weil ich keine Nierenschalen griffbereit hatte und durch das lädierte Knie nicht gerade sehr bewegungsfähig war. Diese vielen Tabletten die ganze Zeit, die Zytostatika, die per Infusion durch meinen Körper schossen, die Operationen, die ständigen Untersuchungen, die Angst davor, Metastasen zu bekommen oder gar zu sterben, die Angst, dass die Chemotherapie und die Bestrahlungen nicht richtig anschlugen. So oft lag ich damals weinend im Bett. Da war so viel, was mich auch jetzt noch regelmäßig nachts aufwachen lässt. Albträume, in denen ich einen Rückfall erlitten habe, Albträume, in denen ich Patienten sehe, die damals verstorben sind. Ein Jahr ist es nur her ...
Luise hatte ich auf einer Party von Manuel kennen gelernt.
»Kannst du mir ihre Nummer geben?«, fragte ich ihn am nächsten Tag. Er schaute mich verwirrt an.
»Die von Luise? Und ich dachte, du wärst schwul.«
Ich musste lachen. »Blödmann!«, sagte ich und boxte ihn leicht auf den Oberarm.
»Ich gebe sie dir, auch wenn du Spongo keine Chancen hast«, meinte er herablassend. »Sie ist eine Nummer zu groß für dich!«
Er hatte mich noch nie mit einer Freundin gesehen. Ich war in die Klinik gekommen, als meine Freunde begannen, auf Partys zu gehen, mit Mädchen zu knutschen und ihre ersten Beziehungen zu führen. Während ich in der Klinik gegen meine Übelkeit und gegen diese schrecklichen Gedanken – Warum ich? Warum passiert das nur mir? Ich will das alles nicht! Ich will es nicht! – kämpfte.
Dieses lange Jahr war kein Platz für Gedanken an Mädchen aus meiner Schule gewesen, denn diesen nahm Maria ein. Sie klopfte damals zart an meine Tür und steckte ihren Glatzkopf durch den Türspalt.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie schüchtern.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich war zuerst leicht überfordert, ein Mädel in meinem Alter ohne Haare, das war seltsam. Ich trug eine Mütze. Bei den kleinen Mädchen auf der Station machte ich mir keine Gedanken darüber.
Luise war das erste Mädchen, das mein Interesse wecken konnte. Ihr war genauso wie Maria egal, was die anderen über sie dachten. Sie war stark, klug, sensibel, sie war interessiert an mir. Und sie war
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