Liebe und andere Schmerzen
wunderschön.
»M-m-m-m-m-m-einst du w-w-w-w-ir könnten mal – ähem – was t-t-t-rinken gehen?« stotterte ich.
Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Klar!«
Ich traute mich aber nicht nach der Nummer zu fragen. Als sie ging und ich sie ganz schüchtern mit Handschlag verabschieden wollte, zog sie mich an sich heran und sagte:
»Manuel hat meine Nummer. Bis dann.«
Wie Maria konnte Luise mir meine Nervosität nehmen. So kam es dazu, dass ich es nach einigen Treffen schaffte, den ersten Schritt zu machen, »die« Frage zu stellen, vor der sich jeder Heranwachsende fürchtet – wegen des möglichen Korbs, den man kriegen könnte. Mädchen, so sagt man, möchten warten. Mädchen, so sagt man, möchten ganz viel Romantik.
Wir lagen im Bett, nachdem wir den ersten Sex meines Lebens hatten – mit Maria war ich nie so weit gegangen. Diese ganzen Schläuche von den Infusionsständern überall, außerdem konnte man in alle Zimmer hineinsehen. Glückshormone durchrasten meinen Körper, ich lag glücklich und zufrieden im Bett: Luise und ich hatten miteinander geschlafen! Ich, der schüchterne Tobi – Luise, die jeder Typ in meiner Stufe toll fand. Jeder hätte mit mir tauschen wollen. Es waren die besten Stunden meines Lebens, diese zwei Stunden oder halbe Stunde oder drei Stunden – das Zeitgefühl war verschwunden, so schön war es. Und so schön war sie, dass ich das kaum in Worte fassen konnte, doch ...
... dieses Gefühl brach sofort ab, als sie »Die Glasglocke« von Sylvia Plath, die auf ihrem Nachttisch lag, in die Hand nahm und mich fragte, ob ich ihr vorlesen möchte. Mir war das Buch vorher nicht aufgefallen. Ich wollte das nicht. Nicht dieser Roman! Nicht ... Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, ich hielt ihn verzweifelt und sagte ihr, dass ich ihr nicht vorlesen könnte.
»Warum denn nicht? Was ist denn los?«, wollte sie wissen.
Ich konnte nichts sagen. Wie ihr das erklären ...?
»Tobi, lies mir vor. Ich möchte in deinen Armen einschlafen, während du mir vorliest. Ich liebe deine Stimme!«, säuselte sie mir ins Ohr.
»Ich kann wirklich nicht!«, sagte ich standfest.
Sie schaute mich eindringlich, fast flehend an.
Wieso war es ihr so wichtig?
Ich hatte es Maria versprochen und ich wollte sie nicht enttäuschen, doch ich mochte auch Luise nicht verletzen. Ich wollte noch viele Male mit ihr schlafen! Maria war meine Seelengefährtin gewesen, die mit mir geschmust, die mit mir stundenlang über die Krebserkrankung geredet hatte. Und die am Ende in meinen Armen geweint hatte, voller Angst vor dem nahenden Tod. Luise brachte mich zurück zu den Lebenden, und das wollte ich nicht unnötig aufs Spiel setzen.
Die Versuchung war sehr groß, meinen Schwur, den ich einst gegeben hatte, für dieses eine Mal zu brechen. Doch sofort dachte ich: Einmal ist nicht keinmal! Wenn ich einmal damit anfange, dann tue ich es bestimmt immer wieder. Mit Luise, die zwar Maria ähnlich, aber nicht sie war. Ich konnte nicht sprechen, denn so viele Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Diese Fragen, was nach dem Tod sei, ob die Seele fortlebe, ob die geliebten Menschen, die nun im Himmelreich waren, einen im weiteren Leben beobachteten. Ob sie einen in allen Lebenslagen begleiten oder gar beschützen könnten. Sieht mich Maria, wenn ich jetzt mit Luise im Bett liege? Wird sie mich als Verräter unserer damals für immer und ewig geschworenen Liebe zueinander betrachten? Was würde sie denken, fühlen oder wie man das nennen könnte, was eine eventuell weiterlebende Seele dann täte, falls es sie es noch gäbe, wenn ich nun einem anderen Mädchen vorläse? Nicht nur die ewige Liebe hatten wir uns geschworen, Maria und ich. Eines Abends – ganz am Ende ihres Lebens und in einem besonderen Augenblick –, gaben wir uns das Versprechen, dass wir nie einer anderen Person etwas vorlesen wollten. Diese romantische Übereinkunft geschah, als wir uns gegenseitig den Roman »Die Glasglocke« vorlasen. Esther Greenwood und ihr Suizidversuch brachte uns zwar in eine melancholische Stimmung, aber ... irgendwie tat diese uns gut: Auch anderen ging es schlecht. Wir hatten uns vorgenommen, danach den »Fänger im Roggen« zu lesen. Doch dazu war es nie gekommen.
Und jetzt lag ich neben Luise, in die ich verliebt war, auf eine andere Weise, sehr viel körperlicher und sehr viel weniger vertraut. Ich konnte ihr nicht meine wahren Gründe nennen. Gar nichts konnte ich sagen, nicht einmal meine Tränen
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