Liebe und Marillenknödel
will, um noch ein paar Minuten lang in die Ferne zu sehen, höre ich, wie sich ein Wagen nähert. Das ging aber fix.
Der Taxi-Messner sieht immer noch genauso aus wie früher, nur, dass er noch älter geworden ist. Inzwischen ist er so klein, dass man ihn hinter dem Steuer seines riesigen Cherokee-Jeeps kaum sieht. Ich winke ihm zu, er kurbelt das Fenster runter und ruft: » Taxi?«
Das Südtirolerische klingt ja, als würde man eine heiße Kartoffel auf der Zunge jonglieren und dabei versuchen, um Hilfe zu schreien, aber » Taxi«, das habe ich verstanden.
» Ja, das bin ich«, rufe ich.
Er klettert aus dem Wagen, klemmt sich alle meine Gepäckstücke gleichzeitig unter die Arme und schafft sie emsig in den Kofferraum. Natürlich erinnert er sich nicht an mich. Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, mich mit kessem Blick von oben bis unten zu mustern. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, ob die Geschichte mit Reinhold Messner stimmt, verkneife es mir aber.
» Saaa, wohin gian mer«, sagt er, als ich neben ihm im Jeep sitze.
» Danke, und Ihnen?«, erwidere ich.
» Wo-hin mir fah-ren«, sagt er und betont jede einzelne Silbe, als käme ich von der Sonderschule oder vom Mars.
» Oh!« Ich lache nervös. » Nach Alrein bitte!«
Na, das kann ja was werden. Dabei gehöre ich nicht mal zu den Hamburgern, die beim Sprechen ssständig über ssspitze Sssteine stolpern und ssso’n Ssseisss. Den Taxi-Messner scheint das allerdings keinen Deut zu jucken. Er plappert ununterbrochen weiter, ohne sich daran zu stören, dass ich kaum ein Wort von dem, was er sagt, verstehe. Leider ist er auch, was seinen Fahrstil angeht, mehr als entspannt. Er lenkt einhändig und lässt seinen linken Arm lässig aus dem offenen Fenster hängen – und das, obwohl der Fahrweg wirklich unglaublich steil ist. Genau genommen ist es gar kein Fahrweg, sondern zwei parallel zueinander laufende Trampelpfade, die sich im Zickzack den Berg hochhangeln. Alle zwei Sekunden rumpeln wir durch ein Schlagloch, das tiefer ist als das vorige, und in manchen Kurven stehen wir so steil am Hang, dass ich, wenn ich aus dem Fenster schiele, nur Abgrund sehe. Hin und wieder überqueren wir eine bunt getupfte Wiese, eine sattgrüne Alm, oder wir kommen an einer Holzhütte vorbei, auf deren Sonnenseite eine Bank lehnt und Wanderer zur Rast einlädt. Aber ehrlich gesagt, ich habe im Augenblick wenig Freude an der Natur, denn ich drücke mich mit ausgestreckten Füßen in den Sitz und bete, dass dieser Mann tatsächlich weiß, was er tut. Ich meine, er ist wirklich alt, und die Tatsache, dass er diese Strecke seit den Sechzigern fährt (zumindest glaube ich, das vorhin so verstanden zu haben), muss ja nicht automatisch heißen, dass er sie noch sehen kann.
Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass wir eben eine Sekunde lang mit dem rechten Vorderrad über dem Abhang hingen.
Bitte, Himmel, lasst mich hier raus!
Okay, Sophie, ganz ruhig. Beruhige dich. Wir sind gleich oben. Stell dir die Ruhe vor, die in Alrein herrschen wird.
Ruhe.
Ruhe.
Ruhe.
» Da isch es!«
Ich öffne überrascht die Augen. Der Taxi-Messner deutet auf den Hang vor uns. Ich lehne mich zur Seite und versuche, bergauf zu spähen. Tatsächlich, da ist es.
Nur ein paar Serpentinen über uns liegt Alrein, träge im Sonnenschein, stolz und schön. Es wirkt tatsächlich absolut modern, obwohl man ihm die Jahrzehnte durchaus ansieht, ein bisschen so wie bei manchen Frauen, die trotz weißem Haar und einer Million Falten ganz mädchenhaft und anmutig wirken. Als wir näher kommen, kann ich die vom Wetter ausgebleichten Fichtenholzbalkone sehen. Die weiß getünchten Wände strahlen wie Wäsche auf der Leine, und die in einem irren goldolivgrünen Farbton gestrichenen Fensterläden sind alle aufgeklappt – was mich ganz schön erleichtert, denn das heißt, es ist also doch schon jemand hier.
Als wir die letzte Kurve nehmen, wird die Wiese sichtbar, über die ein schmaler Weg weiter hinauf in die Berge führt. Und im Hintergrund geht das Panorama der Dolomiten auf, ein Meer aus Gipfeln, deren oberste Spitzen meist noch schneebedeckt sind. Sie alle überragt der mächtige Peitlerkofel, wild und steil wie ein Reißzahn. Ich glaube zumindest, dass er Peitlerkofel heißt, ganz sicher bin ich mir nicht. Onkel Schorschi hat sich immer wieder bemüht, mir die Namen der umliegenden Gipfel einzubläuen. Er zeigte auf die Linie am Horizont und zählte mit einer wippenden Handbewegung die Namen auf: Puezspitze,
Weitere Kostenlose Bücher