Liebe und Marillenknödel
nähere Zukunft macht mir auch ein wenig Angst. Wer wohl seit Johannas Tod das Regiment übernommen hat? Vielleicht ist auch überhaupt niemand mehr da oben? Eigentlich beginnt die Saison ja Ende April, und jetzt ist bereits der 10. Mai, aber ich habe verzweifelt versucht, jemanden zu erreichen, und es ging immer nur der Anrufbeantworter an. Tante Johannas Stimme, die mir einen wunderschönen Tag wünschte und sagte, dass im Augenblick wahrscheinlich viel zu tun sei, man würde zurückrufen, so bald als möglich. Ich sprach dreimal darauf, mit der Bitte, mich auf dem Handy anzurufen, aber es meldete sich niemand.
Ich versuche, mir nicht auszumalen, was passiert, wenn die Türe da oben tatsächlich verschlossen ist. Denn natürlich habe ich nicht einmal einen Schlüssel.
Vera und ich sind dann aller Vorsätze zum Trotz doch nicht ausgegangen. Stattdessen haben wir uns was vom Koreaner geholt und zwei Sixpacks vom Kiosk an der Isar. Dann haben wir uns auf den Balkon gesetzt und über alte Zeiten und die letzten Wochen geplaudert. Sie ist das, was man guten Gewissens eine alte Freundin nennen darf (wenn ich Menschen so nenne, die ich erst seit fünf Jahren kenne, fühle ich mich immer wie eine Lügnerin, obwohl fünf Jahre natürlich auch nicht ohne sind), und auch, wenn wir inzwischen selten öfter als an unseren Geburtstagen telefonieren und ich allenfalls mal an Silvester eine Sammel- SMS von ihr bekomme, ist es, wenn wir uns wiedersehen, doch sofort wieder wie früher: lustig und nah und vertraut. Vera war von der fünften Klasse an meine Banknachbarin, durchgängig, bis zum Abi. Sie ist sehr kurzsichtig und war schon immer sehr eitel, und weil sie sich bis zum Führerschein weigerte, eine Brille zu tragen, musste sie alles, was auf der Tafel stand, von mir abschreiben. Dafür gab sie mir ihre Hausaufgaben. Kurzum: Wir waren ein Superteam. Wir konnten alle relevanten Themen miteinander besprechen (Jungs, Eltern, Verhütung und Badezusätze, denn sie badet genauso gern wie ich) und ließen uns trotzdem unseren Freiraum.
Nach dem Abi ist sie leider nach München gegangen, um Architektur zu studieren, und unsere Telefonate wurden immer seltener. Inzwischen arbeitet sie als Redakteurin bei AD , einem Magazin, das ausschließlich von extravaganten Häusern und schönen Möbeln handelt, beides Themen, von denen ich nicht viel Ahnung habe. Seit Kurzem wohnt sie in einer schicken Altbauwohnung im Glockenbachviertel, in der mehrere Sessel stehen, auf die sich zu setzen mit Todesstrafe belegt ist, und dass ich das nicht von selber wusste, wunderte sie schon sehr. Angeblich sind alles Originalentwürfe von irgendwelchen Bauhausarchitekten, mit Polstern aus echtem Kalbsleder. Na ja. Ich habe ihr das natürlich nicht gesagt, aber wenn man mich fragt, stehen solche Teile inzwischen doch in jedem besseren Wartezimmer!
Wie dem auch sei. Als ich ihr von meinem Plan mit der Pension erzählte, riss sie vor Begeisterung die Augen auf und holte sofort ihr Notebook, um sich die Sache anzusehen.
Ich fand ja schon immer, dass Alrein irgendwie anders ist als normale Südtiroler Gasthöfe, aber das hatte wohl eher etwas damit zu tun, dass ich Tante Johanna so gern mochte. Doch als ich gestern Abend über Veras Schulter auf den Bildschirm sah, veränderte sich mein Blick auf den Gasthof. Und als Vera es sagte, bemerkte auch ich, dass Alrein nichts Alpenländisches oder Biederes an sich hatte – es war ein schlichtes und schnörkelloses Flachdachhaus inmitten grüner Almwiesen, durch dessen raumhohe Fenster wahnsinnig viel Licht ins Haus kam. Alles, was an Alpenarchitektur erinnerte, waren die lang gestreckten Balkone und die Holzverkleidung, mit der die oberste Etage eingefasst war.
» Und du hast keine Ahnung, wer das Haus entworfen hat?«, fragte sie mich, und ich bemerkte, dass eine leichte Erregung in ihrer Stimme lag.
Ich schüttelte den Kopf.
» Versprich mir bitte, das zu recherchieren, ja? Das Haus muss in den Zwanzigerjahren entstanden sein, aber ich wüsste nicht, dass in der Gegend dort damals schon so modern gebaut worden wäre.«
Dass eine Frau mit Veras Geschmack sich so begeistert von Alrein zeigt, hat meine Vorfreude natürlich noch mal um das Dreifache gesteigert. Gut, wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich mir kaum vorstellen, dass Alrein wirklich ein Architektenhaus sein soll. Es wurde ja von Onkel Schorschis Großeltern gebaut, die, soweit ich weiß, ganz einfache Weinbauern waren, denen es im Hochsommer zu heiß
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