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Liebe und Marillenknödel

Liebe und Marillenknödel

Titel: Liebe und Marillenknödel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Sternberg
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überhaupt nichts von ihm wissen. Auf mich wirkt der Mann so sympathisch wie ein Pitbull, der kläffend an der Leine eines besoffenen Neonazis zerrt.
    Oder doch, über eine Sache wüsste ich schon gern Bescheid. Nämlich darüber, was er eigentlich mit den ganzen Gästen gemacht hat. Früher war Alrein fast die ganze Saison über ausgebucht, und wenn die elf Zimmer mal nicht voll waren, dann war es zumindest die Wirtschaft – fast jeder, der den Peitlerkofel besteigen wollte, machte hier Rast. Aber heute habe ich den ganzen Nachmittag lang niemanden gesehen. Alle Schlüssel hingen an dem Brett im Büro, die Zimmer waren abgesperrt, und als ich Jirgl darauf angesprochen habe, hat er nur geantwortet, morgen käme einer.
    Morgen! Ein einziger Gast!
    Irgendwo muss auch Fritz Jirgls Frau gewesen sein, denn wenn sich seit Tante Johannas letztem Brief, den sie kurz vor ihrem Sturz schrieb, nichts geändert hat, ist sie hier Zimmermädchen. Die beiden haben im letzten Frühjahr in Alrein angefangen, als Nachfolger für Maria und Toni, die sich, nachdem sie vier Jahre lang nebeneinanderher gearbeitet hatten, aus heiterem Himmel ineinander verliebten – und beschlossen, irgendwo etwas Eigenes aufzumachen. Tante Johanna war wahnsinnig froh, dass ihre neuen Mitarbeiter bereits verheiratet waren und nicht mehr auf dumme Ideen kommen konnten. Eheleute, fand sie, brächten die beste Voraussetzung für ein Leben auf der Hütte mit: Sie haben sich damit abgefunden, den Alltag zu ertragen.
    Leider habe ich Frau Jirgl noch nicht zu Gesicht bekommen. Außer ihrem Mann und mir scheint nur Gianni, der Koch, hier oben zu sein, der mit den Marillenknödeln, genau. Gianni ist etwa fünfzig und sehr, sehr schmal und ebenso klein. Er hat riesige Augen und Segelohren und wirkt der trotz seines süditalienischen Teints immer ein bisschen zu blass. Seit ich ihn das letzte Mal nach Onkel Schorschis Beerdigung gesehen habe, scheint er sogar noch dünner geworden zu sein – aber vielleicht wirkt das nur so, weil sich seine Geheimratsecken so stark ausgebreitet haben. Genau genommen sind es nicht einmal mehr zwei, sondern nur noch eine einzige große. Und er ist noch schüchterner als früher. Als ich in die Küche kam, um ihn zu begrüßen und mir etwas zu essen zu holen, nuschelte er nur » Buona sera, Signora Sophia«, dann schnappte er sich einen Lappen und versteckte seinen roten Kopf im Backofen. Das war sonderbar, aber na ja – der Ärmste hat natürlich auch schlimme Sachen erlebt.
    Ursprünglich stammt Gianni nämlich aus Palermo. Ich weiß nicht ganz genau, was die Hintergründe waren, aber irgendwie muss sein großer Bruder sich mit der Mafia eingelassen haben. Eines Tages, damals war Gianni um die zwanzig, saßen die beiden zusammen mit Giannis Schwägerin bei Rotwein und Pizza in einem Straßenlokal, Gianni musste pinkeln und verschwand auf der Toilette, da fuhr langsam ein Wagen an den Tischen vorbei. Darin saß ein Mann, der in aller Seelenruhe nicht nur Giannis Bruder und dessen Frau erschoss, sondern auch den Kellner, der gerade am Tisch stand, um neues Wasser zu bringen. Hammerhart! Dummerweise ist Gianni nicht davon abzubringen, dass die Kugel, die den Kellner traf, eigentlich für ihn bestimmt war. Seither schreckt er bei jedem lauten Geräusch zusammen, erträgt kein Geschrei mehr und keine Feindseligkeiten und Autos und Palermo schon gar nicht. Um sich vor der sizilianischen Cosa Nostra zu verstecken, floh er bis nach Norditalien. Dafür, dass Tante Johanna ihn hier oben fernab der Zivilisation bei sich aufgenommen hat, war er ihr so dankbar, dass er ihr die letzten dreißig Jahre die Treue gehalten hat.
    Aber Angstneurosen hin oder her – ich finde, dass er mich ruhig ein bisschen freudiger hätte willkommen heißen können. Immerhin kannte er mich schon, als ich noch ein Kind war.
    Na ja, aber vielleicht sollte man so etwas nicht gleich überbewerten. Möglicherweise hat er gerade einfach nur sehr viel zu tun.
    Auch wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, was das sein könnte – so wenig, wie hier oben los ist.
    Plötzlich überkommt mich ein banges Gefühl, das ich abzuschütteln versuche, so schnell es geht.
    Wahrscheinlich ist das alles einfach ein bisschen zu aufregend für mich. Ich meine, ich bin plötzlich in einem anderen Land, stecke in einem anderen Leben, ich stehe auf dem Balkon meiner toten Tante Johanna und werde mich sogar gleich in ihr Bett legen – da wird man doch wohl ein paar Emotionen haben

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