Liebe und Marillenknödel
das? Vielleicht vermisst er einfach nur die Frau, an deren Seite er fast dreißig Jahre lang die Küche geführt hat. Sicher leidet er unter ihrem Tod mehr als irgendjemand sonst – das hatte ich noch gar nicht bedacht. Ich sollte nachsichtig mit ihm sein. Bestimmt braucht er einfach bloß Zeit.
Ich stelle Flasche und Glas aufs Tablett und bugsiere es in Richtung Haustür – genau im richtigen Moment. Herr Philippi biegt gerade um die Kurve. Bis eben sah man nur seinen schneeweißen Scheitel, denn er hatte den Blick auf den Boden vor sich gerichtet und sich auf seine Schritte konzentriert. Doch jetzt blickt er auf – und ich trete ins Sonnenlicht. Das nenn’ ich Timing!
Die Schnapsflasche glitzert, ein Lächeln huscht ihm übers Gesicht, er hebt seinen Wanderstock zum Gruß und ich …
Oh nein. Das mit dem Zurückwinken war vielleicht keine so gute Idee.
Starr vor Schreck sehe ich zu, wie erst die Flasche und dann das Glas vom Tablett gleiten, wie sie auf dem Boden auftreffen und in tausend Splitter zerspringen.
» Scheiße«, rutscht es mir heraus.
Ich starre regungslos auf die Scherben zu meinen Füßen.
Ein Mensch mit durchschnittlicher Intelligenz würde jetzt in die Küche laufen, neuen Schnaps holen und die Scherben zusammenkehren. Ich hingegen bleibe stehen wie in den Erdboden getackert. Ich Idiot. Schon als Kind hatte ich einen außergewöhnlich schlechten Gleichgewichtssinn. Kein Mäuerchen konnte ich entlangbalancieren, ohne zu wanken wie ein besoffener Matrose auf hoher See. Ich bin wahrscheinlich auch der einzige Mensch auf der Welt, der beim Versuch, im Stehen den zweiten Stöckelschuh anzuziehen, schon einmal bäuchlings hingefallen ist – natürlich nicht unbeobachtet zu Hause, sondern in einer gut besuchten Prada-Filiale. Dass ausgerechnet ich so tun muss, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan als kellnern!
Wahrscheinlich habe ich einfach zu lange in der Verlagsbranche gearbeitet. Da tun ständig alle so, als würden sie alles wissen und können.
Und jetzt kommt auch noch Jirgl um die Ecke und gafft mich hämisch an. Ich spüre ganz deutlich, wie meine Gesichtsfarbe immer röter wird. So etwas passiert auch immer nur mir!
» Signora«, höre ich plötzlich hinter mir.
Ich drehe mich um. Es ist Gianni, mit einem neuen Tablett, einem neuen Glas und einer neuen Flasche. Mit einer Geste bedeutet er mir, mich um den Gast zu kümmern, während er in die Küche läuft, um Schaufel und Kehrbesen zu holen.
Ach, ich könnte ihn knutschen!
Immer noch ein bisschen derangiert wende ich mich unserem Gast zu. Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, ihn schon von Weitem mit Namen zu begrüßen, aber jetzt, da er vor mir steht, bin ich so verwirrt, dass mir nicht mehr einfällt, wie er heißt.
» Scherben bringen Glück, schon vergessen?«, sagt er. Er ist mindestens 75. Sein altes Gesicht legt sich in freundliche Falten, und seine langen weißen Brauen umlodern die freundlichen Augen wie ein warmes Feuer. » Heinrich Philippi, wenn ich mich vorstellen darf!« Er streckt mir die Hand entgegen.
Ich versuche ein Lächeln. … » Sophie von Hardenberg, Johanna Pichlers Großnichte«, sage ich zerknirscht und halte ihm seinen Schnaps hin.
Doch er schüttelt den Kopf. » Den, junge Dame«, sagt er, » den brauchen jetzt Sie, glaube ich.«
Was soll ich sagen? Recht hat er.
9
» Seit sechzig Jahren!«, rufe ich erstaunt. Herr Philippi und ich gehen die Treppe hinauf, hoch zu seinem Zimmer. Eigentlich wäre es Aufgabe des Zimmermädchens, die Gäste einzuweisen, doch Frau Jirgl ist seit unserer ersten Begegnung nicht wieder aufgetaucht.
Na ja, wahrscheinlich ist es besser so herum. Wenn sie häufiger so ein Gesicht macht wie vorhin, als ich sie um die zweite Putzrunde bat, laufen uns die Gäste gleich rückwärts wieder aus dem Haus.
» Als zwölfjähriger Bub bin ich zum ersten Mal hier gewesen, das war 1952. Seither hab ich versucht, alle paar Jahre heraufzuwandern. Eigentlich hatte ich ja gehofft, mit der Frau Johanna Jubiläum feiern zu können, aber …«
» Ja, es ist sehr traurig«, sage ich.
Einen Moment lang schweigen wir. Johanna hat den Gasthof in den Fünfzigerjahren übernommen, und es gibt ein paar sehr alte Stammgäste wie Herrn Philippi, die untröstlich sein werden, wenn sie hören, dass sie nicht mehr hier ist. Sie war Alrein, und die Pension ist ohne sie nicht mehr dasselbe.
Leise schließe ich die Tür auf, und wir treten ein – allerdings nur einen Schritt
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