Liebe und Marillenknödel
– wo gibt’s denn noch so was?
Kopfschüttelnd suche ich mein Handy aus dem Nachtkästchen, das ich gestern ausgeschaltet habe, weil es hier oben sowieso kein Netz gibt. Ich schalte es ein und sehe nach, wie spät es wirklich ist. Hups. Eine ordentliche Pensionswirtin ist wohl besser ein bisschen früher wach – es ist zwölf Uhr mittags.
Na ja, was soll’s. Ich fühle mich gut. So lange habe ich seit Jahren nicht mehr geschlafen!
Ich ziehe das Uhrwerk auf, stelle die Uhr auf zehn nach zwölf und den Wecker auf acht. Heute Abend muss ich ihn nur noch scharf stellen, dann bin ich für morgen gerüstet.
Endlich stehe ich auf und trete noch im Nachthemd auf den Balkon. Die Sonne scheint, die Wiesen grünen – wunderbar! Und was ist das da, das sich da unten über die Wiese bewegt? Ist das etwa unser Gast? Er braucht zwar bestimmt noch eine halbe Stunde, bis er hier oben ist, aber trotzdem: Plötzlich bin ich ganz aufgeregt.
Ich schnappe mir ein Handtuch, mein Kittelkleidchen und frische Wäsche und flitze über den Flur, um duschen zu gehen. Die Zimmer in Alrein haben keine eigenen Bäder, stattdessen gibt es einen Paravent, hinter dem eine Kommode mit einer Waschschüssel und einem Emailkrug steht. Klar, das ist auch ein bisschen Show, weil natürlich alle die Waschräume auf dem Flur benutzen, aber es sieht wirklich sehr apart aus, wie auf einem dieser alten holländischen Gemälde.
Das mit den Gemeinschaftsbädern kann unangenehm sein, aber eigentlich nur, wenn ein sehr dicker, sehr alter Gast vergisst, die Tür abzuschließen. Seit Johanna vor ein paar Jahren alle Bäder renovieren ließ, sind sie richtig, richtig schön, mit viel hellem Holz und glänzenden Fliesen und schlichten weißen Waschbecken. Todschick! Vorfreudig öffne ich die Badezimmertür.
Oh. Ich muss mich wohl korrigieren: Das Waschbecken könnte todschick aussehen. Wenn da nicht eine Tropfsteinlandschaft aus Zahnpastaresten wäre. Darin eingelassen: eine Schicht aus Staub und Bartstoppeln. Und – ein einzelnes, widerborstiges Schamhaar.
Schlagartig denke ich an einen sehr dicken, sehr alten Gast.
In meiner Kehle baut sich ein Würgreiz auf. Eilig klemme ich meine Sachen unter den Arm und gehe nach nebenan. Leider ist es da auch nicht viel besser. Dass mir dieser Dreck gestern Abend nicht aufgefallen ist! Na ja. Am besten mache ich es so wie früher als Studentin: einfach nicht so genau hingucken. Damals habe ich viel schlimmere Badezimmer gesehen – unter anderem mein eigenes. Ich darf nur nicht vergessen, nachher Frau Jirgl darum zu bitten, beim Putzen das nächste Mal ein klein wenig sorgfältiger zu sein.
Nichts als Ärger mit dem Personal!
Aber so ein bisschen Schmutz bringt mich natürlich längst nicht aus der Fassung. Das frische Quellwasser auf der Haut ist herrlich, und ich habe fantastische Laune, als ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss hüpfe.
Vor der Tür zur Gaststube halte ich inne. Sie steht ein wenig offen, durch den Spalt kann ich Herrn und Frau Jirgl sehen. Die beiden sitzen sich an dem Ecktisch gegenüber, der früher Tante Johannas Stammplatz war. Sie trinken schweigend ihren Kaffee und sind in ihre Zeitungslektüre vertieft. Gut, das Wort Zeitungslektüre ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Herr Jirgl hat etwas in der Hand, das aussieht wie eine zerblätterte Ausgabe von Auto Motor Sport, und Frau Jirgl löst ein Kreuzworträtsel.
Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich den Kaffeegeruch vorhin im Bett nicht bloß halluziniert habe.
Sitzen die beiden um die Zeit etwa noch beim Frühstück? Ich sehe mir das Ehepaar genauer an. Ich meine, ich will ja nicht unnötig spießig wirken, aber zu Tante Johannas Zeiten trug das weibliche Personal im Dienst zumindest eine weiße Bluse, und wenn ich mich recht erinnere, war eine saubere Schürze Pflicht. Frau Jirgl jedoch hat schon wieder eine Tiger-Lilly-Hose an, diesmal in Pink, dazu pinkfarbene Pumps und ein Top mit jeder Menge schwarzer Spitze. In dem Aufzug kann sie auf den Strich gehen, aber doch nicht hier zur Arbeit antreten!
Und über Kreuzworträtsel im Dienst will ich erst gar nichts sagen. Außerdem läuft schon wieder DJ Ötzi, wenn auch nur ganz leise.
» Guten Morgen!«, sage ich mit heiterer Stimme und trete in die Stube ein. Ich will ja auch nicht kleinlich sein. Ganz bestimmt zieht sie sich die Schürze gleich an. Außerdem sind ohnehin noch gar keine Gäste da.
» Ich bin Sophie von Hardenberg, Johanna Pichlers Großnichte. Und Sie müssen
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