Liebe und Marillenknödel
Küche, auch, wenn auf dem Bild noch die Wandschränke neben dem Fenster fehlen, und anstelle des alten Holzofens heute ein sechsflammiger Herd aufgestellt ist. Zwei Frauen sind ebenfalls darauf zu sehen, beide von hinten und mit ordentlich Speck auf den Rippen – so, wie es sich für gute Köchinnen gehört. Sie tragen Schürzen und beugen sich über die geöffnete Ofentür, als würden sie über das, das sich darin befindet, sinnieren. Über ihnen, also auf der Anrichte neben dem Herd, steht ein kleiner Junge in kurzen Hosen und blickt neugierig auf das Geschehen hinab. Kann das sein? Ist der Knirps wirklich Onkel Schorsch, Johannas Mann? Mag sein. Auf alle Fälle schaut er so gierig drein, dass man sofort ebenfalls Appetit entwickelt. Ich lege das Bild beiseite. Damit lässt sich etwas anfangen, garantiert.
Nicht, dass ich sonderlich nostalgisch wäre oder so. Nein, für gewöhnlich berührt mich der Anblick alter Schwarz-Weiß-Fotografien kein bisschen. Es geht mir damit wie mit Höhlenmalereien – ich finde sie interessant, das ja, aber eher seltsam als bewegend.
Doch bei diesen Bildern hier ist das völlig anders. Bei den Bildern hier merke ich ganz deutlich, dass sie unmittelbar etwas mit mir selbst zu tun haben. Dass sie ein Teil von mir sind, von dem ich nicht wusste, dass er existiert.
Ich kann gar nicht anders, ich blättere weiter.
Besuch aus München – Heuernte – Herr Heinrich Hobrecht begutachtet sein Werk.
Moment mal. Der Name sagt mir doch was.
Ich blättere zurück und stelle fest, dass er schon auf manchen Bildern von den Bauarbeiten zu sehen war. Er ist ganz groß und schlank, viel schlaksiger als die Menschen, die bisher auf den Fotos waren. Er trägt einen dunklen Anzug, Hut und eine runde Brille und sieht inmitten all der Eingeborenen auf seltsame Weise städtisch aus. Und er ist der Einzige, der in diesem Album mit Vor- und Zunamen auftaucht. Wahrscheinlich ist es der Architekt. Ja, genau, es muss der Architekt sein. Er begutachtet sein Werk.
Heinrich Hobrecht.
H. H.
Irgendetwas klingelt bei mir, aber ich komme nicht darauf. Ich meine, es könnte natürlich sein, dass es bloß der Name eines Autors ist, den ich verdrängt habe, aber das irgendwie … Das Gefühl ist anders.
Jetzt müsste man Internetzugang haben.
Oder auch nicht. Ich blicke auf, und tatsächlich, ganz unten im Regal steht er noch, in dunkelblauem Leinen mit verblasster Goldschrift: Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Als ich aus dem Bille und Zottel -Alter raus war, habe ich mich manchmal mit einem Band in mein Zimmer verzogen, um dort, unter dem Vorwand, mich für Naturwissenschaften zu interessieren, Einträge zu Schlagworten zu studieren, die meiner Mutter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten.
Ich stehe auf und ziehe diesmal Band sechs aus dem Regal, Gu-Ir. Mal sehen. Ich schlage das Buch in der Mitte auf und finde nach kurzem Blättern tatsächlich einen Eintrag.
Also entweder, es hat draußen gerade einen Wetterumschwung gegeben. Oder das ist mein Puls.
Hobrecht, Heinrich Georg (1893–1970) war ein deutscher Architekt der Bauhaus-Moderne. Er studierte bei ➝ Mies van der Rohe und schuf u. a. Industrie-, Gewerbe- und Museumsbauten in Nürnberg, Ludwigshafen, Bremen und Konstanz, darunter das ➝ Museum Martens.
Oookay. Dass Ludwig Mies van der Rohe einer der wichtigsten modernen Architekten überhaupt war, hab sogar ich mitgekriegt. Und was das für den Bekanntheitsgrad des Herrn Heinrich Hobrecht bedeutet, ahne ich – ganz ohne AD -Lektüre. Ich sollte Vera anrufen, und zwar fix.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schalte es an, um auf die Uhr zu sehen. Wow, es ist bereits nach Mitternacht. Selbst Vera fände es nicht besonders lustig, jetzt noch einen Anruf zu bekommen. Hm. Vielleicht schicke ich ihr eine SMS ? Ich schaue unentschlossen auf das Handy in meiner Hand. Dann tippe ich:
Vera, festhalten! Habe den Architekten rausgefunden: Heinrich Hobrecht, sagt dir das was? Geht es dir gut? Hier eher zäh. Mehr bald. Kuss, Sophie.
Ich schalte das Handy wieder aus, gehe zurück in mein Zimmer, kuschle mich ins Bett und widme mich den wirklich wichtigen Dingen des Lebens. Wie sagte Tante Johanna immer? Es geht doch nichts über einen gesunden Schlaf.
14
Diesmal wird es anders laufen, das weiß ich genau. Diesmal geht es gut aus. Ich habe die Weißbrotwürfel mit heißer Milch übergossen, sie abgedeckt und zur Seite gestellt, damit sie in Ruhe quellen können. Jetzt würfle ich ein
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