Liebe und Marillenknödel
existenzieller Bestandteil des künstlerischen Werks war, beim Einzug wieder abgeschraubt haben. Das Ding war pink, mit goldener Kante.
» Nicht unter Architekten, Gisela«, mischt sich mein Vater ein. » Alrein war in einer Architekturzeitschrift! Und in der Welt am Sonntag!«
» Das Heft ist schon erschienen?«, frage ich baff. Vera wollte es mir eigentlich schicken, aber sie sagte, ich solle erst nächste Woche damit rechnen.
» Gerade eben gestern«, sagt mein Vater. » Die Landgrebes sind Abonnenten und haben uns gleich darauf aufmerksam gemacht. Ehrlich, Pünktchen, du sahst ganz toll aus! Und erst das Haus! Also, wenn ich eher gewusst hätte, dass da so ein bekannter Bauhausarchitekt seine Hände …«
» Dumm nur, dass man von den Leistungen dieses sogenannten Architekten so gar nichts bemerken kann«, sagt meine Mutter und sieht sich um. » Ich meine, was soll das? Sind Flachdächer nicht seit den Sechzigerjahren aus der Mode? Und dass es auf den Zimmern immer noch keine Badezimmer gibt – in der heutigen Zeit! Und diese Toilette, auf der ich vorhin war – Fußböden aus Holz! Unversiegelt!«
» Mama, das Haus ist ein Dreivierteljahrhundert alt …«
» Na, aber dennoch. Wir leben doch schließlich heute. Wie man hier überhaupt noch Appetit entwickeln kann!«
» Kein Problem«, sagt mein Vater, was weder meine Mutter noch mich groß überrascht, denn Appetit hat Papa eigentlich immer. Wenn wir früher mal mit der ganzen Familie in den Urlaub gefahren sind, mussten wir alle zwei Stunden Pause machen: weil meine Mutter furchtbar nötig auf die Toilette musste, und weil mein Vater einen Imbiss brauchte. Meistens eine Bockwurst mit Kartoffelsalat. Früher war das kein Problem, da konnte er essen, was er wollte, aber seit er in Rente ist, sieht er leider auch so aus.
» Ach ja, apropos Essen«, sagt meine Mutter. » Sophie, darum musst du dich mal kümmern. Ich habe vorhin verzweifelt versucht, jemanden zu finden, der uns etwas zu essen besorgt, aber dieses sogenannte Personal hier scheint Besseres zu tun zu haben, als sich um die Gäste zu kümmern.«
» Unmöglich«, findet auch mein Vater. » Da muss ich deiner Mutter zustimmen. Dieser seltsame Kellner ist wirklich ein Ärgernis. Wir haben ihn gebeten, uns die Karte zu bringen, aber er ist einfach irgendwo im Haus verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.«
Irgendwie hatte ich es den ganzen Vormittag erfolgreich verdrängt, daran zu denken, was Jirgl und Jirgeline anstellen, wenn Nick und ich nicht da sind.
» Na ja, aber Leonhard, das ist ja auch kein Wunder, wenn die Chefin sich sonst wo rumtreibt.«
» Ich hab mich nicht rumgetrieben, Mama, ich …«
Ich habe mit Nick geknutscht.
Ich erröte. Hoffentlich bemerken das meine Eltern nicht.
» Warum habt ihr denn nicht einfach gesagt, wer ihr seid?«, frage ich, um von mir abzulenken.
» Kindchen. Wir wollten uns einen Eindruck verschaffen, da spielt man doch nicht gleich mit offenen Karten. Sophie, ernsthaft: Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf den Tischen. Das kennt man doch! Beim Geschäft muss man immer hinterher sein.«
» Die Sache ist die, Sophie«, sagt mein Vater. » Ich habe das selbst zu spät gelernt. Du brauchst Mitarbeiter, auf die du dich verlassen kannst. Die den Laden selbst schmeißen können, wenn du mal krank sein solltest. Das war der Fehler, den ich gemacht habe. Ich habe immer gedacht, ich könnte es mir nicht gestatten, einfach mal in den Urlaub zu fahren – gemacht hab ich’s erst, als ich schon Rückenprobleme hatte.«
Er sieht mich streng an. Wenn er seine Unternehmer-Ratschläge gibt, wird er immer furchtbar ernst und findet alles, was er sagt, wahnsinnig wichtig. Ich glaube, am liebsten wäre es ihm, ich würde seine Regeln mitschreiben, auswendig lernen und am Abend noch einmal rezitieren.
Was ich heute leider nicht hinkriegen werde. Während seiner Predigt sind meine Gedanken wieder und wieder zu Nick in die Küche gedriftet.
» Setzt euch. Ich hole euch die Speisekarte«, sage ich kleinlaut und verschwinde im Haus, mit einem Mal wieder die kleine Tochter, die ich für sie wahrscheinlich auch dann noch bin, wenn ich längst am Rollator gehe.
» Mama, übrigens, ich muss euch was sagen«, sage ich, als ich wieder zu ihnen an den Tisch komme. Ich habe mich in Windeseile notdürftig frisch gemacht, bin in ein Kleidchen geschlüpft und war dann eben noch in der Küche, um unsere Bestellungen an Nick weiterzugeben – ohne ihm zu sagen, wer da
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