Liebe und Vergeltung
Es fiel schwer zu glauben, daß sie noch vor einer Woche in einem Bordell gearbeitet hat-te. „Haben wir laut genug gesprochen?“ fragte Mikahl belustigt. „Oder sollen wir wiederholen, worüber wir uns unterhalten haben?“
„Ich habe nicht gelauscht!“ versicherte Jenny zitternd. „Ich wollte mich nur erkundigen, ob Mr. Slade so wie jeden Abend eine Tasse Tee wünscht.“
„Es stimmt, sie bringt mir abends immer frischen Tee“, warf Benjamin Slade ein.
„Lüg mich nicht an, Jane!“ sagte Mikahl, ohne auf die Bemerkung des Anwaltes zu achten. Die Tür schließend, fügte er trocken hinzu: „Ich habe das Rascheln im Gang gehört, seit Mr. Slade und ich hier im Arbeitszimmer sind. Setz dich!“ Zaghaft nahm Jenny auf einem Stuhl Platz, schaute den ihr aufmunternd zulächelnden Anwalt hilfesuchend an und blickte dann verstört zu Prinz Balagrini.
„Ich zweifle nicht daran, daß du dich ausgezeichnet aufs Spionieren und Belauschen verstehst“, sagte er kühl. „Bei Mrs. Bancroft waren dir diese Fähigkeiten bestimmt sehr nützlich. Es würde mich wundern, wenn du dir das von heute auf morgen abgewöhnen könntest. Es stört mich auch nicht, wenn du horchst, aber ich verlange von dir die Zusicherung, daß du nichts, was du in diesem Hause hörst, gegen Mr. Slade oder mich verwendest. Außerdem will ich, daß du mir alles mitteilst, was dir an anderer Stelle zu Ohren kommt und für mich wichtig sein könnte. Ist das klar?“
„Ja, ich gebe Ihnen mein Versprechen, Eure Hoheit“, antwortete Jenny und nickte eifrig. „Ich würde nie etwas tun, das Ihnen oder Mr. Slade schaden könnte!“
„Hoffentlich beherzigst du den Vorsatz!“ erwiderte Prinz Balagrini streng, ging zum Schreibtisch und nahm die glimmende Zigarre aus dem Aschenbecher. „Hast du irgendwelche Fragen an mich, bevor ich gehe, oder einen Anlaß, dich zu beschweren?“
„Nein, natürlich nicht!“ sagte Jenny erschrocken. „Mr. Slade ist sehr gut zu mir. Noch nie habe ich mich so wohl gefühlt wie hier.“
„Das überrascht mich nicht“, erwiderte der Prinz, blies den Rauch vor sich hin und drückte die Zigarre aus. „Haben wir noch etwas zu besprechen, Mr. Slade?“
„Nein“, antwortete der Anwalt und reichte dem Prinzen ein umfangreiches Dossier. „Diese Unterlagen führen in allen Einzelheiten auf, was ich Ihnen vorhin nur im großen ganzen geschildert habe. Sie werden sehen, welch unglaubliches Ausmaß die beschriebenen Aktivitäten erreicht haben.“
„Danke“, sagte Prinz Balagrini und nahm die Akten entgegen. „Ich wünsche eine angenehme Nacht.“
Sobald er das Arbeitszimmer verlassen hatte, äußerte Jenny leise: „Ein merkwürdiger Mann! Nichts scheint ihm zu entgehen. Bei ihm weiß man nie, woran man ist. In seiner Gegenwart fühle ich mich immer unsicher.“
„Das kann ich Ihnen nachempfinden“, stimmte Benjamin Slade zu und lächelte flüchtig. „Aber es gibt keinen besseren Arbeitgeber, wenn man sich nichts zuschulden kommen läßt.“ „Zum Feind möchte ich ihn nicht haben“, murmelte Jenny beklommen und fügte herzlich hinzu: „Aber Sie zum Freund! Vor Ihnen habe ich keine Angst. Möchten Sie jetzt ein Täßchen Tee?“
„Ja, gern.“
Bereitwillig stand sie auf und ging zur Tür.
Unwillkürlich hob Benjamin die Hand, um Jenny festzuhalten, ließ sie jedoch sinken und schaute ihr nur verlangend nach, bis sie den Raum verlassen hatte. Die Lippen zusammenpressend, wandte er sich dann den auf dem Schreibtisch liegenden Schriftstücken zu. Viele zunächst unlösbar scheinende Aufgaben hatte er für Prinz Balagrini ausgeführt, und zu dessen vollster Zufriedenheit. Die schwierigste von allen war jedoch, eine Dirne zu einer gesellschaftsfähigen jungen Dame zu machen.
11. KAPITEL
Jethro Crawleys Bauernhof bestand aus einfachen, aus grauem Stein errichteten Gebäuden. Wind und Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen, und das ganze Anwesen machte einen leicht verwahrlosten Eindruck. Auf dem First des Haupthauses jagte ein halb umgekippter rotbemalter Holzfuchs drei buntgefiederte hölzerne Hühner, doch das Strohdach war, wie so vieles andere auch, nicht mehr in einwandfreiem Zustand und bedurfte dringend einer Ausbesserung.
Vor dem Eingang saß Prinz Balagrini ab und klopfte an die Tür, deren Anstrich an vielen Stellen abblätterte. Eine Weile regte sich nichts, und suchend blickte Mikahl sich um. Auf dem Hof war niemand zu sehen. Ungeduldig machte er sich ein weiteres Mal durch lautes Pochen
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