Liebe und Vergeltung
in der Mitte des chinesischen Brückchens stehen, lehnte sich an das Geländer und schaute auf das dahinplätschernde Wasser. „Für Sie scheinen Prinzipien etwas zu sein, das man mit einem Achselzucken abtun kann“, sagte sie leise. „Ich habe eine gänzlich andere Auffassung. Unterschiedliche Gesinnungen können zwei Menschen sehr entzweien, ja ein ganzes Volk, wie die Geschichte beweist. Und in der Ehe haben die Männer die größeren Rechte, sowohl in gesetzlicher, finanzieller und auch in körperlicher Hinsicht. Welchen Sinn hätte es, meine Überzeugung zu vertreten, wenn Sie mich zwingen würden, Dinge zu tun, die mir widerstreben?“
„Rein theoretisch mögen Männer im Rahmen des Gesetzes tatsächlich mehr Macht haben“, räumte Mikahl ein, „doch in der Praxis sieht vieles anders aus. Sie werden immer den Schutz Ihrer Familie genießen, Lady Sara, falls Sie sich hilfesuchend an sie wenden sollten. Ich bin allerdings der Meinung, daß es nie notwendig sein wird. Sie haben ein starkes Wesen, und außerdem sprechen wir nicht über eine Kriegserklärung, sondern über eine mögliche Ehe.“
„Manche Leute behaupten, zwischen der Liebe und einem Krieg wäre kein großer Unterschied“, entgegnete Sara, drehte sich zu Prinz Balagrini um und fragte, ihm fest in die Augen schauend: „Warum wollen Sie mich unbedingt heiraten, Sir? Sir Charles ging es um meine Mitgift und den gesellschaftlichen Status, den er durch mich bekommen würde. Ist auch Ihnen nur daran gelegen?“
„Nein“, antwortete Mikahl fest, stützte sich neben Lady Sara auf das verschnörkelte Brückengeländer und blickte auf die am anderen Ufer wachsende Trauerweide, durch deren lange, grazile Zweige das Sonnenlicht flirrte. „Ein großes Vermögen ist etwas sehr Angenehmes, doch ich bin reich genug. Falls Sie Bedenken haben, ich könnte mich Ihres Geldes bemächtigen, wäre ich einverstanden, einen Vertrag zu unterzeichnen, der Ihnen die alleinige Verfügungsgewalt über Ihren Besitz zugesteht. Und was den leichteren Zugang zum Hochadel anbelangt...“ Mikahl hielt inne und zuckte achtlos mit den Schultern. „Sicher, er wäre mir nützlich, sollte ich in England bleiben, doch unbedingt erforderlich ist er nicht.“ Sara fragte sich, ob Prinz Balagrini von ihr erwarten würde, daß sie ihn im Falle einer Heirat in die unwirtliche Gegend Kafiristans begleitete und dort, am Ende der Welt, unter unzivilisierten Umständen lebte. „Haben Sie denn vor, in England zu bleiben?“ erkundigte sie sich beiläufig, zupfte ein Blütenblatt von der Rose und ließ es auf das Wasser schweben. Sie sah ihm nach, wie es mit den Wellen davontrieb, und sagte nach einem Moment bedächtig: „England ist meine Heimat. Ich habe nichts dagegen zu reisen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich mich in der rauhen Wildnis Ihres Landes wohl fühlen würde.“
„Nein, das harte Dasein dort würde Ihnen nicht behagen“, entgegnete er.
Unwillkürlich war Sara verstimmt, daß der Prinz in ihr eine schwächliche, hilflose Kreatur zu sehen schien. „Soll ich Ihren Worten entnehmen“, fragte sie mit einem Anflug von Mißmut, „daß Sie mich irgendwann nach der Hochzeit verlassen und allein in Ihre Berge heimkehren würden?“
„Nein.“ Mikahl schüttelte entschieden den Kopf. „Ein Besuch in Kafiristan wäre möglich, doch leben würde ich dort nie wieder.“
„Sie sind bereit, bedenkenlos die Heimat aufzugeben?“ Ungläubig schaute Sara den Prinzen an.
Er wich ihrem Blick aus. „Es fällt schwer, sich an einem Ort heimisch zu fühlen, wo man nicht geboren ist. Die Stätte meiner Geburt hat mir indes nie etwas bedeutet und wird auch niemals meine Heimat sein.“
„Hatten Sie denn nie ein richtiges Heim?“ fragte Sara, erstaunt über diese rätselhafte Antwort.
„Ich habe mancherorts Bleiben besessen, sie jedoch nie als mein Zuhause betrachtet. Für mich ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie sehr Engländer sich ihrem Land, den Sitten und Gebräuchen verbunden fühlen. Auch Sie sind sehr englisch, Lady Sara. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich an irgendeinem anderen Punkt der Erde wohl fühlen würden.“
„Sie haben recht“, gab sie zu. „Ist das nun gut oder schlecht?“
„Das kann ich nicht beurteilen.“
„Ich bin froh, daß ich weiß, wo mein Platz ist. Sie, der so viel gesehen und erlebt hat, werden meine Einstellung jedoch vermutlich langweilig finden.“
„Sie könnten mich nie langweilen, Lady Sara“,
Weitere Kostenlose Bücher