Liebe und Verrat - 2
Stille macht mich fast schwindelig.
»Komm«, sagt Dimitri. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Er zieht mich von dem Pfad weg, hin zu dem kleinen Hain. Ich muss fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten, und bemühe mich, in dem hohen Gras, das mit Wildblumen durchsetzt ist, nicht ins Stolpern zu kommen.
»Was machst du denn?« Ich muss lachen. »Wohin gehen wir?«
»Das wirst du schon sehen!«, ruft er mir zu.
Wir rennen zwischen den Bäumen hindurch, und jetzt kann ich erkennen, dass es sich um einen Orangenhain handelt. Ich muss an meine Mutter denken. Orangen und Jasmin. Der Schlangenstein pulsiert heiß unter meinem Gewand.
Der Hain scheint endlos zu sein. Ich müsste Angst haben, mich zu verirren, denn die Bäume stehen in einer merkwürdigen Anordnung, die nur die Natur zu verstehen scheint, aber Dimitri ist bei mir. Er kennt den Weg ganz genau, und ich folge ihm, ohne zu zögern.
Dann lassen wir die Bäume hinter uns, und vor uns liegt der Himmel. Das Meer unter uns glänzt und funkelt. Weiße Schaumkronen tanzen auf den Wellen, die sich an den zerklüfteten, steil abfallenden Felsen brechen.
»Hier bin ich als Junge immer hergekommen«, sagt Dimitri. »Das war mein Geheimplatz, obwohl ich vermute, dass meine Mutter ganz genau wusste, wo ich war. Hier auf Altus gibt es nicht viele Geheimnisse.«
Ich lächle und stelle mir Dimitri als einen dunkelhaarigen Jungen mit einem koboldhaften Grinsen vor. »Wie war es? Hier aufzuwachsen, meine ich.«
Er schlendert zu einem Baum, streckt die Hand nach oben aus und pflückt eine kleine Orange.
»Es war … idyllisch, nehme ich an. Obwohl ich das damals natürlich noch nicht wusste.«
»Was ist mit deinen Eltern? Leben sie auf der Insel?«
»Mein Vater lebt hier.« Ein Schatten wandert über sein Gesicht, und nach seinen nächsten Worten kenne ich auch den Grund dafür. »Meine Mutter ist tot.«
»Oh … Das … Das tut mir leid, Dimitri.« Ich lege den Kopf schräg und lächle ihn traurig an. »Das ist noch etwas, das wir gemeinsam haben.«
Er nickt leicht und tritt zu mir.
»Komm. Setzen wir uns.«
Ich lasse mich in das Gras am Rand der Klippe fallen. Dimitri setzt sich neben mich und wechselt das Thema! Er will wohl nicht mehr über seine Eltern sprechen.
»Altus ist wie eine Kleinstadt, allerdings nicht im Mindesten spießig oder bigott.« Er rollt die Orange auf seiner Handfläche hin und her. »In vielerlei Hinsicht war meine Kindheit wohl ganz ähnlich wie deine, vermute ich. Es gab Hochzeiten, Geburten und Todesfälle.«
»Und alle leben miteinander, Männer und Frauen.« Dieses Detail spukt mir immer noch im Kopf herum und ich muss es einfach zur Sprache bringen.
»Aha. Du hast also mit Una gesprochen. Bist du schockiert?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ein bisschen. Es ist … anders als das, was ich gewohnt bin.«
Er nickt. »Es wird eine Weile dauern, bis du dich an unser Leben gewöhnt hast, Lia. Das weiß ich. Aber du solltest unsere Bräuche nicht als exotisch oder fremd betrachten. Sie sind älter als die Zeit selbst.«
Ich schaue übers Wasser und denke über seine Worte nach. Ich weiß nicht, ob ich mich im Augenblick mit ihnen beschäftigen kann. Sie bergen in sich eine Wirklichkeit, die ich noch vor wenigen Wochen nie und nimmer hätte begreifen können, obwohl ich in London selbst ein relativ freies, ungebundenes Leben geführt habe.
»Erzähle mir von Sonia«, bat ich, unter anderem, um das Thema zu wechseln, aber auch, weil ich mich jetzt stark genug fühle, um die Wahrheit über meine Freundin zu erfahren.
Dimitri fängt an, die Orange zu schälen, wobei er sich bemüht, den Streifen Schale nicht abreißen zu lassen. »Sonia ist … immer noch nicht wieder sie selbst. Die Ältesten haben beschlossen, dass sie in klösterlicher Abgeschiedenheit leben muss.«
»In klösterlicher Abgeschiedenheit?« Langsam begreife ich nichts mehr. Einerseits scheine ich in einer sinnesfrohen Kommune gelandet zu sein, und dann kommt es mir wieder so vor, als wäre ich im Kloster.
Er nickt. »Getrennt von den anderen. Nur sehr wenige von den Schwestern sind in der Lage und mächtig genug, die nötigen Rituale zu vollziehen. Deine Großtante wäre ebenfalls bei ihnen, wenn sie nicht so krank wäre. Nur diese Schwestern dürfen während dieser Genesungszeit zu Sonia.«
Ich bin beunruhigt. »Rituale? Sie tun ihr doch nicht etwa weh, oder?«
Er nimmt meine Hand. »Natürlich nicht. Es sind die Seelen, die ihr wehgetan haben, Lia. Die
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