Liebe und Verrat - 2
Schwestern müssen die Seelen zurücktreiben, sie dazu bringen, Sonia loszulassen, damit sie wieder zu sich selbst finden kann.« Er zieht seine Hand weg und schält weiter die Orange. »Sonia aus der Gewalt der Seelen zu befreien, kann eine Weile dauern, und nur die Ältesten sind dazu in der Lage.«
»Wann darf ich sie sehen?«
»Vielleicht morgen.« Und sein Ton sagt mir, dass damit ein weiteres Thema beendet ist.
Ich reiße ein Büschel Gras aus. »Und Edmund? Wo ist er?«
Er teilt die Orange in zwei Hälften, und ich empfinde mit einem Mal ein starkes Verlangen, an seinen Händen zu riechen. »Er ist hier auf der Insel. Am ersten Tag saß er vor deinem Zimmer, bis er auf dem Boden einschlief. Wir mussten ihn in sein eigenes Zimmer tragen.«
Unwillkürlich muss ich lächeln, und plötzlich kann ich es kaum erwarten, Edmund wiederzusehen.
»Edmund bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?«, bemerkt Dimitri.
Ich nicke. »Neben Tante Virginia ist er der Einzige, der mir von meiner Familie geblieben ist. Obwohl er eigentlich gar nicht zur Familie gehört. Er hat mich …« Ich hole tief Luft, um die Erinnerung ertragen zu können. »Er hat mich durch viele schreckliche Erlebnisse begleitet. Seine Stärke lässt mich glauben, dass ich selbst nicht die ganze Zeit stark sein muss. Dass ich mich manchmal an jemanden anlehnen kann.«
Es ist mir peinlich, diesen Gedanken offen auszusprechen, aber Dimitri lächelt nur leicht. Ich weiß ganz genau, was er jetzt denkt.
Sein Blick liegt heiß auf meinem Gesicht. Darin kann ich so vieles fühlen. So vieles, das ich eigentlich durch einen einfachen Blick gar nicht spüren kann. Kraft. Selbstvertrauen. Ehrgefühl. Treue. Und – ja, vielleicht sogar Liebe.
Er löst seinen Blick von mir und teilt eine Spalte von der Orange ab. Als er die Hand ausstreckt, glaube ich, er will sie mir reichen, aber stattdessen hält er sie mir an die Lippen. In New York oder London wäre es undenkbar, sich als Dame der Gesellschaft von einem Mann füttern zu lassen.
Aber ich bin nicht in New York oder London.
Ich beuge mich vor und nehme die Orange mit dem Mund aus seiner Hand, wobei meine Lippen seine Fingerspitzen streifen. Als ich in die Frucht beiße, merke ich erst, wie klein die Spalte ist. Aber sie ist süßer als jede Orange, die ich je im Leben gegessen habe. Dimitris Augen ruhen auf meinem Mund, während ich kaue.
Ich schaue zu dem Rest der Orange in seiner offenen Hand. »Willst du nicht auch mal kosten?«
Er leckt sich über die Lippen und sagt dann mit rauer Stimme: »Doch.«
Er beugt sich vor und küsst mich auf den Mund, ehe ich einen klaren Gedanken fassen kann. Sein Kuss ruft die Sehnsucht nach einer anderen Lia herbei. Eine Lia, die kein Korsett und keine Strumpfhalter tragen muss. Eine Lia, die sich nicht schämt, wenn ihr Körper unter dem drängenden Kuss eines Mannes erzittert. Eine Lia, die es zulässt, dass seine Finger sie durch den zarten Stoff des Gewandes berühren. Diese Lia lebt nach den Gesetzen der Insel und nicht nach den Konventionen der guten Gesellschaft.
Sein Mund liegt noch immer auf meinem. Er schiebt mich sanft in das weiche Gras, und wir verlieren uns in dem Wind und dem Duft des Ozeans und der Berührung unserer Körper. Als er sich schließlich von mir löst, geht sein Atem schwer.
Hinter seinem Nacken verschränke ich meine Hände und will ihn wieder zu mir ziehen. Er stöhnt leise auf und küsst zärtlich meine Wangen und Augenlider. Mehr nicht.
»Wir kommen aus unterschiedlichen Welten, Lia, und in mancherlei Hinsicht aus unterschiedlichen Zeiten. Aber hier und jetzt möchte ich dir sagen, dass ich die Regeln deiner Welt und deiner Zeit respektiere.«
Ich weiß, worauf er anspielt, und versuche, nicht zu erröten. »Und was ist, wenn ich das nicht will?« Die Worte sind aus meinem Mund heraus, ehe ich sie noch überdenken kann.
Er lehnt sich auf einen Ellbogen und streicht über eine Falte meines Gewandes. »Diese Fliederfarbe steht dir«, murmelt er.
»Versuchst du gerade auszuweichen?«
Er lächelt. »Vielleicht.« Er beugt sich vor und küsst meine Nasenspitze. »Wenn ich nicht ehrlos sein will, muss ich die Regeln deiner Welt akzeptieren, so lange du ein Teil davon bist. Solltest du beschließen, ein Teil meiner Welt zu werden, dann können wir deren Regeln gemeinsam ausleben.«
Ich setze mich auf und schlage die Beine unter. »Du willst, dass ich bei dir auf Altus bleibe?«
Er pflückt ein Gänseblümchen aus dem Gras und steckt es
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