Liebe und Verrat - 2
das Schnurren in ihrer Stimme auszufragen.
»Regnet es hier jemals?«
Trotz der Tatsache, dass ich erst seit knapp vierundzwanzig Stunden wieder bei Bewusstsein bin, kommt es mir unglaublich vor, dass auf Altus einmal nicht die Sonne scheinen könnte.
»Es gäbe hier nicht so viele Apfelbäume, wenn es nicht regnen würde.«
Lächelnd blickt er zu mir hinunter, während wir weiter den steinernen Pfad entlanggehen, und es ist mir, als ob ich ihn zum ersten Mal sehen würde. Seine Haut schimmert gesund. Er trägt dieselbe braune Hose und die maßgeschneiderte weiße Tunika wie Fenris. Das Weiß hebt sich strahlend von Dimitris dunklem Haar ab und die harten Muskeln an seinen Schultern sind unter dem eng anliegenden Stoff des Gewandes kaum zu übersehen. Er fängt meinen Blick ein. Ein Lächeln breitet sich langsam von seinen Augen zu seinem Mund aus, und er hebt die Augenbrauen, als ob er genau wüsste, was ich denke.
Ich erwidere sein Lächeln und bin kein bisschen verlegen.
Dann werfe ich über die Schulter einen Blick zurück und sehe zum ersten Mal das Gebäude, in dem ich die letzten zwei Tage schlafend verbracht habe. Von außen ist es viel beeindruckender als von innen, obwohl es weder groß noch pompös ist. Es ist ganz aus einem bläulich grauen Stein errichtet und ruht lang gestreckt und flach auf dem Hügelkamm, den ich am Tag unserer Ankunft zu erklimmen versuchte. Das Dach scheint aus Kupfer zu bestehen und ist mit einem Belag überzogen, dessen sanftes Grün sich wunderbar in die frischen und kräftigen Grüntöne der umgebenden Wiesen und das dunkle Smaragd des Laubs der Apfelbäume einfügt.
Es ist herrlich hier, obwohl mir das Wort zu schwach und nichtssagend vorkommt. Ich schaue mich weiter um und sehe das Meer, das Haus, das Heiligtum genannt wird, und die anderen, kleineren Gebäude, die sich darum gruppieren, und ich habe das Gefühl, hier zu Hause zu sein. Ich empfinde tiefen Frieden. Ich wünschte, ich hätte früher gewusst, dass ich zur Schwesternschaft gehöre. Es ist, als ob ich ein fehlendes Stück von mir wiedergefunden hätte – ein Stück, von dem ich erst jetzt, da es wieder mir gehört, merke, dass ich es vermisst habe.
Wir begegnen mehreren Leuten und Dimitri begrüßt jeden von ihnen mit Namen. Er lächelt mit seinem charakteristischen Charme, obwohl sie irgendwie gegen sein einnehmendes Wesen immun zu sein scheinen. Als wir an einer liebreizenden alten Dame vorbeikommen, nimmt er meine Hand. Die Frau funkelt ihn böse an, statt seinen Gruß zu erwidern. Ich denke, sie ist einfach nur alt und ein bisschen wirr im Kopf, aber als eine junge Frau mit den Worten »Du solltest dich schämen!« auf Dimitris Freundlichkeit reagiert, kann ich nicht länger schweigen.
Ich bleibe stehen und starre ihr nach.
»Wie gemein! Was ist denn heute bloß mit den Leuten los?« Ratlos schaue ich Dimitri an.
Dimitri lässt den Kopf hängen. »Nun ja … nicht alle denken so über unsere Reise, wie wir es uns wünschen würden.«
»Was meinst du denn damit? Wie kann jemand anders darüber denken? Wir versuchen doch nur, die fehlenden Seiten zu finden, weil wir die Prophezeiung beenden wollen. Ist das nicht auch das Begehren der Schwestern?« Er antwortet nicht, und mir dämmert, dass mir ein wichtiger Teil des Ganzen entgeht. »Dimitri?«
»Sie kennen dich nicht so, wie ich dich kenne.« Sein Gesicht verfärbt sich rot, entweder vor Scham oder vor Verlegenheit, und mir ist klar, wie schwer es ihm fällt, die Worte auszusprechen.
Es ist so einfach, dass ich nicht fassen kann, wie mir dieser Punkt bislang entgehen konnte.
»Es ist wegen mir.« Ich starre eine Weile zu Boden, ehe ich wieder zu Dimitri aufschaue. »Stimmt’s?«
Er legt mir die Hände auf die Schultern und schaut mir in die Augen. »Es spielt keine Rolle, Lia.« Ich will seinem Blick ausweichen, aber er legt mir den Finger unter das Kinn und wendet meinen Kopf zu sich, sodass ich ihn anschauen muss. »Es spielt keine Rolle.«
»Doch, das tut es.« Ich wollte nicht, dass meine Worte grob klingen, aber nun ist es passiert. Ich wende mich von ihm ab und gehe weiter den Weg entlang, wobei ich diesmal den Kopf gesenkt halte und niemanden anschaue, der an mir vorbeigeht.
Nach wenigen Sekunden schließt Dimitri zu mir auf. Er schweigt eine Weile, und als er endlich etwas sagt, habe ich den Eindruck, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählt.
»Ich will sie nicht in Schutz nehmen, aber bitte versuche, sie zu verstehen«, sagt
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