Liebe und Völkermord
Fes. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten trug Tschalabi nicht einen Turban sondern gemäß der osmanischen Tradition einen Fes auf seinem Haupt. Manch ein Kurde betrachtete dies als Verrat an sein eigenes Volk, manch anderer dachte sich, Tschalabi tue dies nur, um die Osmanen zu beschwichtigen und sich ihnen als guter und treuer Freund zu zeigen.
„Ihr habt mich nicht deswegen hierher bestellt, Agha.“
Bilad lächelte und nickte darauf. „Uns stehen schwere Zeiten bevor. Bald wird es zum Krieg kommen. Die Osmanen werden uns brauchen, mehr denn je. Meine Männer und ich persönlich sind die loyalsten Anhänger seiner Majestät. Wie steht Ihr dazu?“
Also hatte Tschalabi richtig gelegen, was den Grund dieser Einladung des Agha Bilad betraf. Er musste kurz schmunzeln und lächelte schelmisch. Bilad kam diese Szene seltsam vor. Er selbst fürchtete sich schon vor diesem Mann.
„ Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt. Nein, ich unterstütze nicht heimlich die Aramäer. Ich möchte Euch jedoch daran erinnern, dass sie unsere Untertanen sind, wenngleich die Osmanen über uns herrschen. Sie entrichten ihre Steuern und halten sich an die Gesetze. Ich habe kein Interesse daran, dass sie verschwinden. Sie sind die Grundlage meiner Existenz. Und Eurer ebenso. Das könnt Ihr nicht bestreiten. Bei allem Respekt.“
„ So ist es. Sie entrichten stets ihre Abgaben und wir leben gut davon. Es ist gewiss unser Glücksfall, dass sie keine Muslime wie wir sind, denn sonst könnten wir nicht diese Forderungen an sie stellen. Denn wir sind treue Anhänger unseres Glaubens, nicht wahr?“
Tschalabi verstand Bilads Anspielung. Die Verachtung diesem Mann gegenüber wurde in ihm nur noch größer. „Ja, wir sind treue Anhänger unseres Glaubens. Unseres Glaubens an Allah, dem Barmherzigen, der allzeit Gute und Liebende.“
Bilad seinerseits verstand Tschalabis Anspielung und wusste nichts, dem entgegenzusetzen. Daher überlegte er eine Weile lang, wie er den Tschalabi entlarven und bloßstellen konnte und lenkte ihn derweil mit Höflichkeiten ab, indem er ihn nach dem Wohlbefinden seiner Familie fragte. Tschalabi bedankte sich bei Bilad für die Nachfrage.
Dann schwiegen sie eine ganze Weile lang.
Dann brach Agha Tschalabi das Schweigen. „Agha, wenn es also zum Krieg kommen sollte, zwischen den Osmanen und wem auch immer, und wenn sie dann ihren Krieg hier in unserem Land führen, und wenn sie befehlen, gegen einen Eurer Untertanen vorzugehen, und die Aramäer töten und ihnen ihr Land wegnehmen, wie gedenkt ihr in diesem Fall zu handeln?“
„ Wir sind Untertanen der Osmanen.“
„ Es sind doch Eure Untertanen und es ist Euer Besitz. Würdet Ihr freiwillig Euer Hab und Gut an die Osmanen abtreten?“
„ Die Osmanen sind uns weit überlegen. Wir könnten es nie mit ihnen aufnehmen. Das weiß jeder unserer Brüder.“
„ Da sagen mir meine Quellen aber etwas ganz Anderes.“
„ Worauf wollt Ihr hinaus, Agha?“
„ Die Osmanen sind heute nur noch ein Schatten von dem, was sie einst waren. Die Europäer werden sie vernichten und ihr Reich unter sich aufteilen.“
„ Wer behauptet so etwas?“
„ Das ist allgemein bekannt, Agha Bilad. Mich verwundert es, dass Ihr noch nichts von all dem wisst. Der Osmane geht nur noch auf Krücken, er ist alt und schwach geworden. Und wie mir scheint, wollen die Türken nun mit aller Gewalt ihr eigenes Ende hinauszögern. Doch wie dumm kann man sein! Warum glauben sie, unsere Christen würden sich gegen sie verschwören?“
„ Es sind Christen, Agha. Wisst Ihr etwa, was sie untereinander in ihren vier Wänden oder in ihren Kirchen besprechen? Glaubt mir, sie sehnen die Europäer herbei.“
„ Wenn dem so wäre, warum haben sie dann die Europäer nicht schon viel früher hierher gerufen? Seid nicht so leichtgläubig, Agha! Bei allem Respekt, Ihr müsst es endlich einsehen, die Europäer haben kein Interesse daran, die Aramäer oder die Armenier vom Joch des Islam zu befreien! Das hätten sie nämlich schon viel früher tun können. Sie denken nur an ihre eigenen Interessen. Und, das wisst Ihr genauso gut wie ich, die Christen sind unter sich gespalten. Deswegen schicken doch diese Europäer und Amerikaner ihre Missionare hierher. Nicht um uns Muslime zu ihrer Religion zu bekehren, nein, sondern um die hiesigen altorientalischen Christen zu ihrer Konfession zu bekehren. Ich habe mich eingehend mit ihrer Geschichte und Kultur beschäftigt.“
„ Das ehrt Euch. Ich selbst habe
Weitere Kostenlose Bücher