Liebe und Völkermord
die Öffnung. Sie stand nun auf der hinteren linken Seite dieses großen, breitflächig, als Rechteck angelegtem Raum aus Lehmziegeln. Sie hatte ihre Augen geschlossen. Das absolute Grauen sollte sie erschrecken, da war sie sich sicher.
Geduckt wie ein sich bei einem Angriff schützender Mensch stand sie erstarrt dort. Sie presste ihre Augen zu. Eine Träne trat aus ihrem rechten Auge hervor. Sie weinte, obwohl sie eigentlich nicht traurig war. Sie weinte um sich selbst. Warum musste sie solch ein Übel ertragen, fragte sie sich.
Nach einer Weile, als ihr Rücken sich verkrampfte, öffnete sie ihre Augen. Die Leiche des Dieners lag quer, mit dem Kopf zur unteren Mitte der Tür gewandt, auf dem Boden. Der Agha lag dort auf seiner Matte, wo er immer saß, wenn er Gäste zu Besuch hatte. Seine Arme waren angezogen, es sah aus ihrem Blickwinkel betrachtet so aus, als hätte er sich zum Schlafen hingelegt. Blut war auf seinem Gewand und auf den freien Flächen seines Körpers nicht zu sehen. Der Grund hierfür waren wohl die vielen Gewänder, welche der Agha der Tradition seines Amtes wegen tragen musste und stets trug.
Licht schien durch das Fenster auf der rechten Seite in die Mitte des Zimmers. Sie musste irgendwie zur Tür am anderen Ende des Zimmers gelangen. Mit zusammengedrückten Augen schlich sie sich durch den Raum. Mit ihrem rechten Fuß schlug sie auf einen weichen Gegenstand, sie dachte, es sei der Kopf ihres toten Mannes gewesen und schrie auf. Sie öffnete ihr linkes Auge kurz, sah, es war ein aus Astscheiben geflochtener Korb, umwickelt von Stoff.
Als sie endlich die Tür erreichte, riss sie sie auf und rann aus dem Raum heraus. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Freiheit. Nur zwei Meter Breite maß der Korridor zwischen dem Wohnzimmer und der Haustür. Sie eilte zur Tür und lächelte nun sogar. Doch plötzlich hörte sie Stimmen hinter der Tür. Jemand schlug an die Tür. „Vielleicht ist sie schon weg. Da macht uns keiner auf. Wir müssen die Tür aufbrechen.“
Sie wich erschrocken zurück. Nun musste sie wieder umdenken. Es verlief alles zu schnell für sie. Sie war abgemagert, ihr Gesicht war blass und unter ihren Augen waren rote Ringe zu sehen. Die Kraft besaß sie nicht mehr, doch es ging um ihr Leben. Sie rannte los, zum anderen Ende des Korridors. In der Länge maß er sechs Meter. Am oberen Ende stand ein Tisch, etwa einen Meter hoch und zwei Meter breit. Darunter wollte sie sich verstecken, sie hätten sie dort wohl nicht so schnell entdeckt. Ein besseres Versteck gab es freilich in diesem Haus nicht.
Doch es war schon zu spät. Kaum da sie nur noch einen Schritt vom Tisch entfernt war, hatten die Männer die Tür aufgebrochen und waren eingetreten und hatten sie erblickt. Der hinkende Mann schritt langsam auf sie zu. Er hob seinen rechten Arm an und richtete ihn nach hinten zu seinen beiden Gefährten, sie sollten zurückbleiben.
Karim bückte sich vor und lächelte. Seine Zähne waren immer noch blendend weiß, was nicht bei allen Männern seines Alters in diesem Land zu ihrem Bedauern der Fall war. „Wir wollen dir nichts tun. Wir sind nur gekommen, um dich zu befreien. Du bist jetzt frei. Agha Muhammad hat dich befreit von deinem Peiniger. Er hat dich zu ihm eingeladen. Hab keine Angst.“
Er streckte seine rechte Hand nach ihr aus, immer noch lächelnd.
Raschid schaute grimmig. „Woher wollen wir wissen, ob sie es ist? Sie könnte doch eine der Dienerinnen sein.“
Fatima saß unter dem Tisch, ihre Beine angezogen, ihr Gesicht vergraben zwischen ihren Knien. Sie zitterte. Karim beugte sich noch weiter vor. Sein Rücken schmerzte nun furchtbar, doch er unterdrückte das Stöhnen und lächelte weiterhin. Er streckte seine rechte Hand weiter nach ihr aus und nahm ihre rechte Hand. „Komm, hübsche Frau, komm mit mir. Ich passe gut auf dich auf. Niemand wird dir je wieder etwas antun. Das verspreche ich dir.“
Sie schaute kurz zu ihm auf. Sie sah den gebrechlichen jungen Kurden. Noch nie hatte sie einen jungen Mann mit deformiertem Körper gesehen. Sie empfand Mitleid für ihn. Karim war sich des durch seine Behinderung leichteren Gewinns des Vertrauens von fremden Menschen bewusst. Das war wohl auch der Grund gewesen, warum Muhammad gerade ihn mit dieser Mission beauftragt hatte.
Sie hörte mit dem Weinen auf. Sie schaute ihn die ganze Zeit über in die Augen. Vorsichtig trat sie hervor und erhob sich.
Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. In jedem Augenblick
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