Liebe unter Fischen
hatte sie sich abgewöhnt, ein schlechtes Gewissen für Dinge zu haben, die noch gar nicht geschehen waren.
Etwa zur gleichen Zeit befand sich Lisi bereits in der Nähe von Leipzig. Von hier aus würde sie nach Süden abbiegen und ihrem Herzen folgen. Das sagte sie sich jedenfalls vor, ohne sich restlos sicher zu sein, ob sie ihrem Herzen folgte oder schlicht den Verstand verloren hatte.
Nach der idiotischen Szene mit Susanne gestern war sie in ihre Wohnung in Tempelhof zurückgekehrt, hatte vom Balkon aus auf den Parkfriedhof geschaut und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Sie rauchte genau einmal im Jahr, und dieser Tag war heute. Wenn ich so weiterrauche, kann ich mich gleich in ein Grab legen, hatte sie gedacht, obwohl sie ja früher oder später ohnehin in einem Grab landen und verfaulen würde mitsamt ihrer Yoga-Figur und ihren Gefühlen. Dieser Gedanke bewog Lisi sogleich, eine Flasche Limoncello zu öffnen, Dinkel-Grissini in sich hineinzustopfen, noch eine Muratti anzuzünden und Bilanz zu ziehen. Bilanz zu ziehen kann für Unternehmen schwierig sein; für einen Menschen in der Krise ist es fatal. Nach drei Gläsern des Zitronenlikörs, den sie aus dem vielleicht letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrer Tochter aus Apulien mitgebracht hatte, schrieb sie ein großes Plus auf ein großes Blatt Papier. Sie zermarterte sich lange, sehr lange den Kopf, fand aber nur drei als Erfolg zu wertende Punkte, weshalb das große Blatt Papier deprimierend leer blieb:
1 ) Ich habe eine tolle Tochter (die ich fast nicht mehr sehe)
2 ) Ich bin relativ glücklich geschieden
3 ) Ich habe einen erfolgreichen Bruder
Ein weiteres Glas lang überlegte sie, ob sie die bereits ins Spiel gebracht Yoga-Figur anführen sollte. Aber erstens bildete der Körper weder einen verlässlichen noch einen bleibenden Wert, und zweitens würde sie ihn fortan mit Limoncello, Grissini und Muratti vernichten. Das ist meine Mittelmeerdiät! Lisi freute sich. Dabei fiel ihr auf, sie verfügte über eine ordentliche Portion Selbstironie. Ja, das konnte als nächster und letzter Punkt angeführt werden:
4 ) Ich kann mich wunderbar selbst verarschen.
Nach dem nächsten Gläschen war sich Lisi aber nicht mehr ganz sicher, ob es tatsächlich als großer Pluspunkt zu werten war, bei der Demontage der eigenen Persönlichkeit autonom zu sein.
Ganz sicher hatte sie dieses Talent von Mama. Nicht jenes zur Selbstkritik, sondern das zur Lisi-Kritik. Im Rahmen eines verlängerten Wochenendes zur therapeutischen Aufarbeitung des Themas » Familiendrama« hatte Lisi damals mit der Kursleiterin drei Hauptphasen ihrer Kindheit herausgearbeitet: Von 0 – 7 hatte ihre Mutter sie wie eine Puppe behandelt, eine Art Spielzeugbaby, dem man entzückende Kleidchen anzieht und Zöpfchen flicht und das man danach stolz der Öffentlichkeit präsentieren kann. Zwischen 7 und 14 war sie weitgehend auf Desinteresse gestoßen, was man – bei positiver Sichtweise – als Freiheitsphase hätte interpretieren können. Ab 14 kannte Lisi von Seiten ihrer Eltern nur noch Kritik. Ihre Mutter führte die Anklage. Ihr Vater schlug sich auf die Seite der Stärkeren, also ihrer Mutter. Im Prinzip gab es nichts, was sie richtig machte. Wenn, war es der Erwähnung natürlich nicht wert. Sie hatte falsche Freundinnen, falsche Schuhe, falsche Schulnoten, falsche Interessen, sie las die falschen Bücher, sah die falschen Filme, trug die falsche Kleidung, ihre Männer waren schrecklich, ihre Berufsvorstellungen naiv, ihre Rollen lächerlich, ihre Wohnung geschmacklos … Bei ihrem großen Bruder war das alles nie ein Thema. Der wuchs in tatsächlicher Freiheit auf, umhüllt von der Gewissheit, er würde seinen Weg schon gehen, und sehet, so kam es. Er durfte sogar eine Schwäbin heiraten, nach Heidenheim an der Brenz übersiedeln, alles kein Problem, er durfte das machen. Lisi dagegen musste nach einem Besuch bei ihren Eltern regelmäßig in ihren eigenen Pass schauen, um sich zu vergewissern, dass sie schon volljährig war. » Sie müssen die alten Muster au fl ösen«, hatte die Familientherapeutin gesagt, was dazu führte, dass Lisi ihr Muster aktivierte und sich dachte: Wieder etwas, das ich muss und nicht kann. Wobei Lisi mit zunehmendem Alter klar wurde: Die Unzulänglichkeit lag nicht an ihr oder in ihr, sondern nur im Blick ihrer Eltern. Es handelte sich um eine Unzulänglichkeit durch Geburt, so, wie andere als Königin geboren werden, nur eben umgekehrt. Durch Handeln
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