Liebe unter Fischen
würde das Manko nie verschwinden, im Gegenteil, es würde klarer und härter ans Tageslicht treten. Alle Bemühungen blieben nicht nur vergeblich, sie erwiesen sich sogar als kontraproduktiv. Würde Lisi einstimmig zur Bundespräsidentin gewählt: Bei der Inauguration hätte sie garantiert die » Haare nicht sehr gut«, die Rede, » na ja«, » und das Amt ist auch nicht mehr das, was es einmal war .«
Was die Punkte auf dem großen Blatt mit dem großen Minus betraf, schrieb Lisi also nicht alles auf, was ihr durch den Kopf ging, weil sie das meiste ohnehin auswendig kannte. Von » zerstöre bei Reparaturversuchen alle Geräte« über » kann meinen Videorecorder nicht programmieren« bis hin zu » beru fl icher Höhepunkt: werde als Karteileiche geführt« reichte das gedankliche Spektrum. Ja, sie konnte mit den Zulieferern des Catering-Unternehmens genauso gut reden wie mit den Servierkräften und den Produktionsleitern, sie galt als sozial kompetent, und doch: Ihre wackelige Selbstsicherheit stürzte in sich zusammen, wenn ihre Mutter sie fragte, ob sie immer noch » Brötchen streiche«. Und es stimmte ja – sie hatte versagt. Denn eigentlich sollte sie auf der anderen Seite des Sets stehen. Im Scheinwerferlicht, vor den Kameras. Ein Gedanke, der ihre Vorstellungskraft in letzter Zeit auch nur noch selten beflügelte, höchstens in den raren Augenblicken, wenn sie sich selbst im Spiegel als Fünfundzwanzigjährige wahrnehmen konnte. Meistens aber nahm sie sich – was ebenso nicht der Realität entsprach – als Sechzigjährige wahr. Wenn gute Laune ihre Selbstironie beflügelte, schaffte sie es immerhin, sich angesichts der tiefen Ackerfurchen in ihrem Gesicht als vielfältige Persönlichkeit zu bezeichnen.
Wann hatte ihr Leben diese seltsame Abzweigung Richtung Schräglage genommen? Was war früher gewesen? Welche Träume hatte sie gehabt?
Letzteres wusste Lisi ziemlich genau:
1 ) Ich will etwas tun, was mir Freude macht. Ich weiß nur nicht, was.
2 ) Ich will die Welt retten. Ich weiß nur nicht, wie.
3 ) Ich will geliebt werden. Ich weiß nur nicht, von wem.
Die Flasche Limoncello stand anklagend leer auf dem Balkon, als die Nacht sich auf die Gräber und Wohnungen von Berlin senkte – und was waren Wohnungen im Prinzip anderes als Gräber auf Abruf – Aufbewahrungsorte von Friedhofsdeserteuren – von Krematoriumsflüchtlingen! Lisi bemerkte, dass ihre Gedanken ein wenig lallten, aber sie war sich sicher: Sie musste weg. Ein paar Tage raus aus der Stadt. Egal wohin. Richtung Süden. Vielleicht nach Grünbach am Elbsee. Warum nicht nach Grünbach am Elbsee?? Das war ein Kraftort. Überhaupt, der Kleine Elbsee – ein magischer Platz, der die Seele durch Elfenzauber wieder in Balance bringt. Und Fred … Alfred! Vielleicht würde sie ihm ja zufällig begegnen.
Möglicherweise würde sie ihm alles gestehen.
Sie sollte ihm alles gestehen!
Das würde sie zwar aller Voraussicht nach die Freundschaft zu Susanne kosten. Aber sie musste es riskieren. Einmal im Leben richtig riskieren. Nicht vernünftig handeln. Nicht leiden. Sich nicht in die Opferrolle fügen. Nicht edel sein. Nicht gut sein. Einfach den Weg des Herzens gehen. Was predigen immerzu alle Weisheitslehrerinnen und Gurus? Der Weg beginnt JETZT .
Bleibt nur ein Problem, dachte sie: JETZT bin ich eindeutig zu betrunken, um loszufahren.
Anderntags war die Trunkenheit verschwunden, nicht aber der Entschluss, die Stadt zu verlassen. Ob das mit Grünbach allerdings eine gute Idee war …? Auch das prächtige Haus ihres Bruders stand ihr schließlich jederzeit offen.
Sie näherte sich dem Autobahnkreuz Nürnberg und stand vor der Entscheidung: Fahre ich nach Heidenheim an der Brenz und verkrieche mich für einige Tage im Schoß der Familie? Oder fahre ich nach Grünbach am Elbsee an den Busen der Natur, der sich allerdings bei schlechter Entwicklung sehr schnell in den Arsch der Welt verwandeln konnte?
Natürlich will ich nach Grünbach, gestand sie sich ein. Natürlich will ich nach Grünbach, um Fred zu sehen. Und das ist keine sehr gute Idee, weil ich noch immer keine Ahnung habe, was ich ihm erzählen soll. Außerdem bin ich eine Frau mit Selbstachtung und kein Teenager-Girlie, das in der hormonellen Verwirrung erster Verliebtheit einem Mann nachläuft, den es gar nicht kennt.
Im Grunde bin ich keine Frau mit Selbstachtung, sondern eine, die Selbstachtung nach außen hin darstellt. So, wie Schauspieler überhaupt nur deshalb Schauspieler
Weitere Kostenlose Bücher