Liebe unter Fischen
sind, damit sie ihr Leben spielen können. Was aber, wenn die Selbstachtung genau darin bestünde, die gespielte Selbstachtung über Bord zu werfen?
Wie würde es sich anfühlen, einmal nicht zu spielen, sondern zu sein?
Andererseits, Heidenheim lag sehr nahe. Sie könnte im Gästehäuschen im Garten ihres Bruders ein paar erholsame Tage verbringen. Sich von ihren Neffen die neuesten Computerspiele zeigen lassen, mit ihrer Schwägerin reden, mit der sie sich in mancher Hinsicht besser verstand als mit ihrem Bruder, Wanderungen unternehmen, Knöpfle mit Bratensauce essen, zur Ruhe kommen …
Vor der entscheidenden Wegkreuzung machte Lisi bei einer Raststätte Halt, um Zeit zu gewinnen. Außerdem brauchte sie einen Kaffee, ein WC und Sprit.
An der Kassa passierte es. Beim Zahlen fiel eine Münze zu Boden. Lisi bückte sich. Als sie sich wieder aufrichtete, fühlte sie den Schmerz. Er nahm seinen Ausgangspunkt am unteren Ende der Wirbelsäule und breitete sich schlagartig zwischen Scheitel und Fußsohlen aus. Mit Tränen in den Augen räumte Lisi das Restgeld in ihre Börse und humpelte zu ihrem kleinen Wagen. Ihre Hände fühlten sich taub an, als sie die Tür öffnete. Sie stützte sich mühsam auf und ließ sich mit größter Vorsicht in den Fahrersitz sinken. Sie zog die Beine nach, erst das rechte, dann das linke. Der Schmerz pochte gegen den Autositz. Von der Anstrengung wäre ihr fast schlecht geworden.
Einmal im Jahr passierte ihr das: Hexenschuss. Während die meisten Menschen in winterlicher Kälte darunter leiden, erwischte es Lisi meistens im Sommer. » Aber warum gerade jetzt ?« , fragte sie sich verzweifelt. Und musste dann über sich selbst lächeln. Es passiert immer gerade jetzt, also im falschen Augenblick, der irgendwie genau der richtige ist, weil es für einen Hexenschuss naturgemäß niemals einen richtigen Augenblick geben kann.
Ich wollte losfahren! Hinaus! Mich befreien! Und jetzt das!
Lisi startete den Wagen. Nun war alles klar: Sie würde die Abzweigung Richtung Westen nehmen und zu ihrem Bruder fahren, dem Orthopäden. Er würde sie mit Spritzen wieder halbwegs schmerzfrei machen und ihr dann ein paar osteopathische Behandlungen verpassen, für die war er weithin berühmt.
Ich werde mich in das Nest der idyllischen Kleinfamilie hocken, dachte Lisi. Alles wird gut werden. Alles wird seinen geregelten Lauf nehmen.
Als sie die ersten Verkehrsschilder sah, die auf das Nahen des Autobahnkreuzes hinwiesen, bekam sie eine entsetzliche Wut. Eine Wut, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie in ihr steckte. Wut auf den Hexenschuss, Wut auf das spießige Haus ihres Bruders, Wut auf das gelungene Leben ihres Bruders, Wut auf Susanne, Wut auf das Schicksal, vor allem aber Wut auf sich selbst. Ist es nicht immer dasselbe? Immer genau dasselbe? Sie schlug auf das Lenkrad ein und es war ihr egal, dass sie dabei hupte. Bevor ich irgendetwas Unvernünftiges tue, fallen mir tausend Ausreden ein, warum es unvernünftig ist, etwas Unvernünftiges zu tun. Und der Scheiß-Hexenschuss ist nichts anderes als eine Scheiß-Ausrede! Am Ende meines Lebens werde ich dem Tod einreden, dass es sehr unvernünftig und obendrein ungesund ist, zu sterben. Aber dem wird das egal sein.
Lisi lächelte entschlossen und zufrieden, als sie ihren Bruder rechts liegen ließ und geradeaus weiterfuhr, Richtung Süden.
Auch Fred war wütend. » Kommt nicht in Frage«, sagte er laut, als er das Telefon au fl egte. Leider war Susanne ihm zuvorgekommen. » Ich lasse mich doch nicht erpressen !« Wie kam sie eigentlich dazu! Und was war mit Mara? Woher kannte Susanne Mara? Hatte sie sie entführt? Hielt sie in einem Keller gefangen? Woher wollte sie wissen, ob ich mich überhaupt für Mara interessierte? Wahrscheinlich bluffte sie einfach nur. Beim Bluffen war sie Weltklasse, sonst hätte sie sich mit ihrem Zwergverlag nie behaupten können in der großen Welt der Bücher. Mit ihren Fähigkeiten würde sie an jedem Pokertisch der Welt reüssieren. Aber nicht bei ihm. » Einfach vergessen !« , schrie Fred zum offenen Fenster hinaus.
Auch andere Verleger bringen Lyrikbände heraus.
Auch andere Töchter haben schöne Mütter.
Wobei Fred – kaum war das Gedachte im Kopf formuliert – schmerzlich bewusst wurde, dass er mit Susannes Zwergverlag harmonierte und dass es ihm selbst am meisten leid tat um die verlorenen Gedichte. Und dass er von allen Müttern und Töchtern der Welt momentan nur mit Mara Kontakt aufnehmen wollte.
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