Liebe unter kaltem Himmel
übrigens auch für Alfred, der meine vorbehaltlose Bewunderung für alle Mitglieder der Familie Radlett nicht teilte.
Für die Radlett-Jungen hatte die Schulzeit wieder begonnen, und meine Cousine Linda, die ich nach Alfred auf dieser Welt am meisten liebte, wohnte jetzt in London und erwartete ein Kind, aber auch wenn Alconleigh ohne sie nicht mehr wie früher war, wohnten doch immer noch Jassy und Victoria zu Hause (kein Mädchen der Radletts besuchte eine Schule), und durch das ganze Haus gellten wie eh und je ihr Singsang, ihre Sprüche und ihr unsinniges Gekreisch. Irgendein Witz wurde in Alconleigh immer gerade zu Tode geritten, und im Augenblick waren es die Schlagzeilen des Daily Express , aus denen die Kinder ein Liedchen gemacht hatten, das sie von morgens bis abends zum Besten gaben. Jassy: »Aufzugschacht wird Todesfalle.« Victoria: »Mann im Lift langsam zerquetscht.« Tante Sadie wurde sehr böse und meinte, sie seien wirklich zu alt für solche grausamen Scherze, außerdem sei es kein bisschen komisch, sondern nur dumm und ekelhaft, und verbot ihnen ein für alle Mal, dieses Lied zu singen. Aber nun klopften sie es einander zu, an Türen, unter dem Esstisch, schnalzten es mit der Zunge oder zwinkerten es mit den Augenlidern, immer unter heftigen Anfällen von boshaftem Gekicher. Ich sah, dass Alfred sie schrecklich albern fand und seine Entrüstung kaum verbergen konnte, als er erfuhr, dass sie überhaupt keinen Unterricht erhielten.
»Dank sei dem Himmel für deine Tante Emily«, meinte er. »Eine vollkommene Analphabetin hätte ich nicht heiraten können.«
Natürlich war auch ich dankbarer denn je dafür, dass ich meine Tante Emily hatte, aber gleichzeitig brachten mich Jassy und Victoria so oft zum Lachen, und ich mochte sie so gern, dass ich mir die beiden einfach nicht anders wünschen konnte, als sie waren. Kaum war ich angekommen, da schleppten sie mich schon zu ihrem geheimen Treffpunkt, dem Wäscheschrank der honorigen Hons, und fragten mich aus, wie ES sei.
»Linda sagt, so gut, wie immer behauptet wird, sei es nun auch wieder nicht«, erklärte Jassy, »und das wundert uns nicht, wenn wir uns Tony vorstellen.«
»Aber Louisa sagt, wenn man sich erst daran gewöhnt hat, sei es die reinste Wonne«, fuhr Victoria fort, »und das wundert uns nun wieder sehr, wenn wir uns John vorstellen.«
»Was stimmt denn nicht mit Tony und John?«
»Langweilig und alt. Los, Fanny, erzähl du mal …«
Ich sagte, ich sei der gleichen Ansicht wie Louisa, weigerte mich aber, in die Einzelheiten zu gehen.
»Das ist unfair, niemand erzählt uns was. Sadie weiß es einfach nicht, das ist klar, und Louisa ist prüde, aber wir haben gedacht, auf Linda und dich sei Verlass. Na schön, dann werden wir eben ahnungslos in unsere Ehebetten steigen, wie viktorianische Damen, und am Morgen danach wird man uns finden, wie wir starr vor Entsetzen vor uns hin stieren, und die nächsten sechzig Jahre verbringen wir in einer kostspieligen Klapsmühle, spätestens dann wirst du vielleicht bereuen, dass du uns nicht weitergeholfen hast.«
»Unter der Last von Juwelen und Valenciennesspitzen, die in die Tausende gehen«, sagte Victoria. »Der Lektor war übrigens letzte Woche hier und hat Sadie ein paar sehr nette erotische Geschichten über diese Dinge erzählt – wir sollten natürlich nichts hören, aber du kannst dir vorstellen, wie es ausging: Sadie hörte nicht zu, und wir spitzten die Ohren.«
»Ich an eurer Stelle würde den Lektor fragen«, sagte ich. »Er würde euch alles erzählen.«
»Er würde es uns zeigen. Nein, vielen Dank.«
Polly kam herüber, um mich zu besuchen. Sie war bleich und dünner geworden, hatte Ringe unter den Augen und wirkte sehr verschlossen, wobei der Gegensatz zu den übermütigen Radletts diesen Eindruck vielleicht noch verstärkte. Neben Jassy und Victoria sah sie aus wie ein Schwan in Begleitung von zwei komischen, ausgelassenen Entchen. Sie hatte die beiden sehr gern. Mit Linda war sie nie sonderlich gut ausgekommen, aber alle anderen in Alconleigh hatte sie sehr gern, besonders Tante Sadie, und niemand, der nicht zur Familie gehörte, kam mit Onkel Matthew so gut zurecht wie sie. Er seinerseits übertrug einen Teil der Verehrung, die er Lord Montdore entgegenbrachte, auf sie, nannte sie Lady Polly und lächelte jedes Mal, wenn ihm ihr schönes Antlitz zu Gesicht kam.
»Kinder«, sagte Tante Sadie, »jetzt lasst Fanny und Polly ein bisschen plaudern und stört sie nicht
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