Liebe unter kaltem Himmel
nachmittägliches Döbel-Beduseln zu stören, ein verärgertes »Verschwinden Sie« entgegengeschleudert und vielleicht sogar einen Stein nachgeworfen hätte. Als er jedoch erkannte, um wen es sich handelte, stand er vor lauter Überraschung einen Augenblick wie gelähmt da, ehe er einen Sprung nach vorn machte, um die Tür des Automobils zu öffnen, so wie einst der Knappe gesprungen war, um den Steigbügel seines Herrn zu halten.
Die Giftspritze, das konnten wir sogar vom Fenster aus erkennen, war in einem furchtbaren Zustand. Ihr Gesicht wirkte fleckig und geschwollen, als hätte sie stundenlang geweint. Sie schien Onkel Matthew überhaupt nicht wahrzunehmen, gönnte ihm weder einen Blick noch ein Wort, während sie zornig nach der um ihre Füße gelegten Decke trat, und stapfte dann mit schwachen, krummen Beinen wie eine sehr alte Frau auf das Haus zu. Tante Sadie kam herausgestürzt, legte einen Arm um sie, führte sie in den Salon und warf die Tür mit einem lauten »Bleibt-draußen-Kinder«-Knall zu. Im gleichen Augenblick verschwanden Lord Montdore und Onkel Matthew im Geschäftszimmer meines Onkels; Jassy, Victoria und ich, wir standen da und glotzten uns mit tellergroßen Augen an, sprachlos vor Staunen über diese außergewöhnlichen Vorgänge. Aber noch bevor wir erste Mutmaßungen darüber anstellen konnten, was dies alles zu bedeuten hatte, fuhr der Beduseler vor, auf die Minute pünktlich.
»Verdammter Kerl«, sagte Onkel Matthew nachher, »wenn er nicht so spät gekommen wäre, dann wären wir längst weggewesen, als sie kamen.«
Er parkte seine kleine Blechbüchse neben dem Daimler und tänzelte mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen die Stufen zur Vordertür hinauf. Bei seinem ersten Besuch hatte er ganz bescheiden die hintere Auffahrt benutzt, aber der Erfolg seiner Magie hatte Onkel Matthew so für ihn eingenommen, dass er ihm gesagt hatte, er könne in Zukunft den vorderen Eingang nehmen, und ihm nun jedes Mal vor Beginn der Operation ein Glas Port kredenzte. Er hätte ihm zweifellos Kaiser-Tokayer gereicht, wenn er welchen gehabt hätte.
Noch bevor der Beduseler klingeln konnte, öffnete Jassy die Tür, und dann umringten wir ihn alle, während er seinen Port trank und meinte: »Ziemlich kalt draußen, wie?« Er war ein wenig ratlos.
»Seine Lordschaft ist doch nicht krank, hoffe ich?«, fragte er, offenbar überrascht, dass mein Onkel nicht vor der Tür gelauert hatte und ihm, während sich die wütende Miene plötzlich zu einem freundlichen Willkommenslächeln aufklärte, nicht auf die Schulter geklopft und selbst den Wein eingeschenkt hatte.
»Nein, nein, er ist bestimmt gleich da. Er hat noch zu tun.«
»Verspätung sieht Seiner Lordschaft aber gar nicht ähnlich, wie?«
Doch bald darauf ließ Onkel Matthew ausrichten, wir sollten schon zum Fluss hinuntergehen und anfangen. Wir fanden es sehr schade, dass das große Ereignis ohne ihn stattfinden sollte, aber das Beduseln musste natürlich bei Tageslicht abgeschlossen werden. Also verließen wir zitternd das Haus, fanden zeitweilig Zuflucht in dem Standard des Beduselers und standen dann in dem eiskalten Nordwind, der durch das Tal blies. Während der Beduseler sein Mittel auf das Wasser streute, krochen wir in seinen Wagen zurück, um uns zu wärmen, und fingen an, über den Grund für den ungewöhnlichen Besuch zu spekulieren. Wir platzten vor Neugier.
»Ich schätze, die Regierung ist gestürzt«, sagte Jassy.
»Warum sollte Lady Montdore deshalb in Tränen ausbrechen?«
»Na, wer erledigt denn jetzt all die Kleinigkeiten für sie?«
»Es wären doch bald andere da, die ihr einen Gefallen tun könnten – diesmal vielleicht die Konservativen. Die sind ihr ohnehin lieber.«
»Meint ihr, Polly ist tot?«
»Nein, nein, dann säßen sie zu Hause über ihrer schönen Leiche und würden nicht im Auto herumkutschieren und andere Leute besuchen.«
»Vielleicht haben sie ihr ganzes Geld verloren und sind gekommen, um jetzt bei uns zu wohnen«, sagte Victoria. Das waren trübe Aussichten, es sprach nämlich tatsächlich einiges für diese Erklärung. Denn obwohl die Leute in jenen Tagen so reich und ihre Vermögen so unendlich sicher waren, lebten sie doch in der Vorstellung, andauernd am Rande des Ruins zu stehen, und die Radlett-Kinder waren im bedrohlichen Schatten des Arbeitshauses aufgewachsen, weil Onkel Matthew, der mit einem jährlichen Einkommen von rund zehntausend Pfund eigentlich sehr gut dastand, alle zwei oder
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