Liebe unter kaltem Himmel
sauren Apfel beißen, dann hat sie es hinter sich. Eine große Geburtstagsfeier werden sie ja für mich nicht mehr veranstalten wollen, da mich Daddy jetzt mit einem Shilling abspeist.«
»Meinst du wirklich?«
»Als ob mir das etwas ausmachen würde! Leid tut es mir nur um Hampton, und das könnte er mir selbst dann nicht hinterlassen, wenn er wollte. Und dann werde ich sie fragen: ›Spielt ihr mit und lasst uns in der Kapelle heiraten (Boy will das aus irgendeinem Grund unbedingt, aber ich muss sagen, mir wäre es auch ganz recht), oder müssen wir nach London schleichen und es dort erledigen?‹ Arme Mami. Jetzt, da ich ihren Klauen entronnen bin, tut sie mir irgendwie schrecklich leid. Ich glaube, je früher wir es hinter uns bringen, desto besser für alle.«
Es war klar, Boy überließ die ganze schmutzige Arbeit immer noch Polly. Vielleicht hatte die Erkältung seine Willenskraft untergraben, vielleicht erschöpfte ihn auch schon der bloße Gedanke an eine junge Frau, bei seinem Alter.
Polly rief also ihre Mutter an und fragte, ob sie am nächsten Tag zum Lunch nach Hampton kommen und mit ihr reden könne. Ich hätte es für vernünftiger gehalten, das Gespräch nicht noch durch die zusätzliche Strapaze einer Mahlzeit zu belasten, aber einen Besuch auf einem Landsitz, in dessen Mittelpunkt nicht ein Essen stand, konnte sich Polly anscheinend einfach nicht vorstellen. Und vielleicht hatte sie wirklich recht, denn Lady Montdore war ziemlich gefräßig und aus diesem Grund während und nach dem Essen umgänglicher als zu anderen Tageszeiten. Jedenfalls machte Polly diesen Vorschlag, und sie bat ihre Mutter auch, einen Wagen zu schicken, sie wolle sich von den Alconleighs nicht für zwei Tage ein Auto leihen. Lady Montdore war mit allem einverstanden, sagte aber, Polly müsse mich mitbringen. Lord Montdore war noch in London, und ich nehme an, sie hatte die Befürchtung, dass sie ein Zusammensein mit Polly unter vier Augen nicht ertragen würde. Sie gehörte jedenfalls zu den Menschen, die einem Tête-à-Tête wenn möglich aus dem Weg gingen, auch mit den nächsten Angehörigen. Polly meinte auch, sie selbst habe mich schon bitten wollen mitzukommen.
»Ich brauche einen Zeugen«, fügte sie hinzu, »wenn sie in deiner Gegenwart Ja sagt, kann sie sich später nicht herauswinden.«
Wie Boy sah auch die arme Lady Montdore sehr schlecht aus; sie wirkte nicht nur alt und krank (genau wie Boy litt sie noch immer unter der Erkältung von Lady Patricias Beerdigung, die von einem besonders bösartigen Virus verursacht worden sein musste), sondern geradezu verkommen. Dass sie auch früher, auch in ihren besten Zeiten, keine besonders gepflegte Erscheinung gewesen war, hatten damals ihr Schwung, ihr forsches Auftreten, ihre strahlende Gesundheit, ihre Lebensfreude und jene innere Gewissheit der eigenen Überlegenheit verdeckt, die ihr durch »das alles hier« vermittelt wurde. Diesen Halt hatte sie nun verloren – infolge ihrer Erkältung und vor allem durch Pollys Abtrünnigkeit, mit der »das alles hier« viel von seiner Bedeutung eingebüßt hatte. Und gleichzeitig hatte sich auch Boy, ihr ständiger Begleiter, der letzte Liebhaber, den sie wohl je haben würde, von ihr abgekehrt. Das Leben war traurig geworden und hatte jeden Sinn verloren.
Schweigend setzten wir uns zu Tisch. Polly schob ihr Essen mit der Gabel hin und her, Lady Montdore lehnte den ersten Gang ab, während ich ziemlich verlegen vor mich hin kaute und die andersgeartete Küche genoss. Das Essen bei Tante Sadie war zu jener Zeit sehr schlicht. Nach ein oder zwei Gläsern Wein wurde Lady Montdore ein bisschen munterer und begann zu plaudern. Sie erzählte uns, die liebe Großherzogin habe ihr eine so nütliche Karte vom Cap d’Antibes geschickt, wo sie sich mit anderen Angehörigen der kaiserlichen Familie aufhielt. Auch meinte sie, die Regierung müsse sich mehr dafür einsetzen, solche wichtigen Besucher nach England zu locken.
»Erst neulich habe ich mit Ramsay darüber gesprochen«, klagte sie, »und er hat mir völlig recht gegeben, aber man weiß ja, geschehen wird deshalb noch lange nichts, so ist das in diesem hoffnungslosen Land. Wirklich zu dumm! Alle Radschas sind schon wieder im Suvretta House in Sankt Moritz – der König von Griechenland in Nizza – der König von Schweden in Cannes und die jungen Italiener beim Skilaufen. Einfach lächerlich, dass wir sie nicht hierherlotsen können.«
»Wozu denn«, fragte Polly, »wenn doch
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