Liebe wird oft überbewertet
ihrem himmelstürmenden Übermut selbst den Göttern gefährlich.
Darauf schnitt Zeus einen jeden von ihnen in zwei Hälften, um ihren Frevel zu bestrafen, und ließ Apollon das Gesicht und den halben Hals herumdrehen zur Schnittfläche damit der Mensch angesichts seiner Zerschnittenheit »sittsamer« würde. Jede der beiden zerschnittenen Hälften sehnte sich jedoch so sehr nach der anderen, dass sie sich aneinander klammerten und verhungerten, »weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten«. Da erbarmte sich Zeus und verlegte ihre Schamteile ebenfalls nach vorne, so dass Mann und Frau wieder zueinander kommen und in der Umarmung Nachkommenschaft zeugen konnten. Dieser Drang der zwei Hälften, sich zu vereinen, wird als Liebe (erôs) bezeichnet.
Die modernere Platonforschung und der britische Soziologe Anthony Giddens sehen in dieser Geschichte die Erfindung der Liebe, als Trick, um »die grobe Mechanik des Sexuellen« zu überdecken und mit Gefühl zu überlagern.
Eigentlich war Sokrates der Theorie-Star bei diesem Trinkgelage, aber seine Erklärung, das letzte Ziel der Liebe sei die Zeugung im Schönen zur Hervorbringung von Unsterblichem wurde nicht so berühmt wie der Kugelmenschen-Mythos des Aristophanes. Und das, obwohl Sokrates’ Text als frühes Beispiel für Freuds Theorie der Sublimierung gilt.
Ausgerechnet der Comedian unter den Anwesenden, der höchstwahrscheinlich betrunken war, hat also mit seinem Witz einen Mythos gespendet, an dem wir uns heute noch abarbeiten. Bezeichnenderweise fallen am Ende des Symposions immer mehr Zecher in die anfangs nüchterne Runde ein, und das Trinkgelage endet im allgemeinen Vollrausch. So ist die Geschichte von den Kugelmenschen die Erfindung eines betrunkenen Komödiendichters! Ein Märchen! Ein zweitausend Jahre alter Mythos!
Und wem dieser Mythos heute noch zur Erklärung der menschlichen Geschlechternatur dient, dem sei noch einmal gesagt, dass Platon/Aristophanes von Mann-Mann-, Frau-Frau- und Mann-Frau-Kugeln sprach. Die heute so verherrlichte hetero-romantische Liebe war also nur eine Möglichkeit von dreien.
Dualseelen und Archetypen
In dem modernen Mythos von der wahren Liebe auf den ersten Blick lebt die Vorstellung von der Liebe als Verschmelzung weiter – die Scheidelinie zwischen du und ich erlischt. Diese Verschmelzungsidee hat auch in der modernen Esoterik mit ihrem System der Dualseelen, Zwillingsseelen und Seelenpartner als Geheimnis der ewigen Liebesverbindung ihren Platz gefunden.
Die Dualseele ist ja eigentlich ein Begriff aus der Religionswissenschaft und wird in Anknüpfung an mythische Texte aus unterschiedlichen Kulturen verwendet. Dahinter steckt die Vorstellung, dass jede Seele ein ursprüngliches Gegenstück besitzt, mit dem sie ewig verbunden bleibt.
Dieser Mythos ist so beständig, dass die Esoterik-Branche noch heute von ihm profitieren kann. In Dualseelen-Ratgebern werden Übungen angeboten, die helfen sollen, die verlorene Dualseele wiederzufinden, denn das ist ja schließlich der Sinn des Lebens.
Tatsächlich finden sich in mehreren kulturgeschichtlichen Überlieferungen Erzählungen von der Trennung eines ursprünglich männlich-weiblichen Wesens in zwei Geschlechter und deren spätere Verbindung. Da wäre beispielsweise Hermaphroditos aus der griechischen Mythologie, der durch das gemeinsame Bad mit der Nymphe Salmakis zum Zwitter gewordene Sohn des Hermes und der Aphrodite.
Die Genesis wiederum erzählt: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf ihn als Mann und Weib. Allerdings wird in dem Bericht über die Erschaffung der Frau ausdrücklich das Fehlen eines passenden Gegenübers für den Menschen erwähnt. Im Buch Mose heißt es: »Dann sprach Gott, der Herr: ›Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein. Ich will ihm ein Wesen schaffen, das zu ihm passt.‹«
Der Koran geht ebenfalls auf den Aspekt der Geschlechterteilung ein: »Er schuf euch aus einem einzigen Wesen, dann machte Er aus diesem seine Gattin« (Sure 39 , 6 ).
In der indischen Mythologie kennt man Ardhanarishvara als »den Mann, der zur Hälfte Frau ist«. Eine Version über die Entstehung des Mann-Frau-Wesens besagt, dass der Hindu-Gott Shiva seine ewige Gefährtin Parvati so fest an sich gedrückt hat, dass beide zu einem Wesen verschmolzen sind. Einer anderen Überlieferung zufolge war dies die ursprüngliche männlich-weibliche Gestalt der Gottheit, bevor sie sich in die zwei Geschlechter
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