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Liebe wird oft überbewertet

Liebe wird oft überbewertet

Titel: Liebe wird oft überbewertet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Rösinger
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Die, die ewig lange brauchen, sich ihrer Kleider und Wäschestücke zu entledigen, den Strandkorb auszustaffieren, die sich gegenseitig Hilfestellung geben und halten müssen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, bis sie dann endlich im Badedress vorsichtig durch den Sand zum Wasser gehen.
    Abends haben die alten Paare dann alles Rührende verloren, oder die ganz Alten kommen nicht zur Kurmuschel, dem Hotspot des Kaiserbads. An diesem Abend gab eine Fünfziger-Jahre-Themenband in seltsamen Kostümen das bislang leiseste Konzert der Welt. Was aber trotzdem einige Senioren veranlasste, die Szenerie unter Protest, mit zugehaltenen Ohren und übertrieben-gequältem Gesichtsausdruck zu verlassen.
    In den Restaurants an der Promenade hat man sich auf die Musik der Siebziger und Achtziger konzentriert. Ergraute Rockgitarristen spielen, ebenfalls in Zimmerlautstärke, alles von Eric Clapton, Dire Straits und Huey Lewis and the News herunter, rufen ein verhalten-verwegenes »Money for nothing and chicks for free!« zum Publikum hin, das an den Gartenmöbeln sitzt und regionale Fischgerichte verdrückt.
    Kilometerlang kann man am von Buchenwäldern gesäumten, siebzig Meter breiten weißen Sandstrand entlanggehen, und abends ist es so angenehm kühl, dass man sogar eine leichte Jacke braucht.

Berliner Ring, 20 . August
    So erholsam so ein Kurzurlaub auch ist, so schnell ist er wieder vergessen. Wie ausgelüftet hatten wir die Heimreise angetreten und uns schon kurz nach dem Ortsschild auf einer der großen Einfallstraßen vor der schlimmen Urban-Heat-Plage in Aggro Berlin gefürchtet. Aber es war gar nicht mehr heiß, auch in Berlin hatte es übers Wochenende abgekühlt. Wieder mal alles falsch gemacht.

Herbst
    »Unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht.«
    Franz Kafka, Das Schloß

Schlesisches Tor, 8 . September
    Der zur Schwermut neigende Mensch wird immer und überall einen Grund zur Traurigkeit finden. Aber der Herbst ist nun einmal schon seit alters her die melancholische Jahreszeit. Schon in der griechischen Säftelehre wurde dem Melancholiker die schwarze Galle als Körpersaft, die Milz als Organ und der Herbst als Jahreszeit zugeordnet.
    »Hauptsache raus!«, empfahl Hippokrates den Melancholikern, und »Hauptsache raus!« muss sich der Mensch auch immer wieder sagen, wenn sich schon Anfang September eine herbstliche Ausgehmüdigkeit als Vorbote der ersten zarten Novemberdepression ankündigt.
    Das Ausgehwochenende begann mit der ewigen Frage »Was ziehe ich an?« und führte dann am Sonntag zur allermelancholischsten häuslichen Tätigkeit: Dem Aussortieren der Sommersachen, der Tops und leichten T-Shirts, luftigen Oberteile und dünnen Leinenhosen, um Platz im Schrank für Langärmliges, Gestricktes, Wollenes, Cordsamtenes zu machen.
    Gleichzeitig blitzen die giftigen, wahrscheinlich letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres zur Fensterscheibe herein, und so moralisch unter Druck gesetzt, trollte ich dann doch mit L. durch die sonntagnachmittäglichen Straßen. Irgendwie zog es uns hinaus in die Freizeitgegend am Schlesischen Tor und von dort aus eher unbeabsichtigt zum Schrottflohmarkt an der Arena. Vor der Halle war eine spannende Installation aus hübsch aufgereihten, zierlichen Nähmaschinen, bauchigen Küchenspülwannen und altertümlichen Druckersetzkästen samt Bleilettern aufgebaut. Drinnen hing schon die Winterkollektion: Pelzmäntel in allen Farben und Schattierungen vom Silberfuchs und Persianer über den Nerz zum Pseudo-Zobel und Fake-Hermelin.
    Als es gegen Abend vor den Cafés selbst für die fanatischsten Freilüftler zu kalt wurde, legte sich eine große Nachsaison-Melancholie über die Straßen.
    Ganz verwaist lag das am Nachmittag noch überfüllte San Remo da, nur ein mysteriöser Mann, der eine »leere Whiskyflasche fürs Theater« holen wollte, kam herein. Später fragte noch jemand nach »Coffee to go«. Dann kam ein gewisser Kai, der nur eine Zigarette schnorren wollte und dann doch ausführlich und ungefragt von seiner Tochter Jennifer und seiner Chancenlosigkeit bei Frauen erzählte – seit er 41 sei.
    Als er endlich ging, kam spät am Abend zwar kein Gast, aber ein netter »Straßenfeger«-Verkäufer, der berichtete, in den anderen Bars sehe es genauso mau aus: »Das war’s. Der Sommer lief noch gut, aber das waren alles Touristen. Jetzt wird’s hart.«

Berlin, 15 . September
    In den Schaufenstern hängen schon langärmelige Kleider, Übergangs-, Herbst- und Strickjacken,

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