Liebe wird oft überbewertet
Politik, Recht und Wissenschaft komplexer. Das öffentliche Erwerbs- und Staatsleben wurde zur Sphäre des Mannes, und um seinen emotionalen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wurde ein von der Frau gestaltetes Ehe- und Familienleben unabdingbar. Es kam, anders als bei der Bauernfamilie oder im Handwerkerhaushalt, zur strikten Trennung von Familie und Arbeit. So wurde für den Mann, der nun hinausging ins feindliche Leben, die eheliche Beziehung immer mehr zum Rückzugsraum.
»Ohne Weib wäre für jede zartfühlende Seele das heutige Leben nicht zu ertragen«, schreibt der Historiker Gervinius 1853 , »denn es ist das Weib, das in der neuen Zeit die poetische Seite der Gesellschaft bildet (…) weil das Weib heute wie der griechische Bürger den gemeinen Berührungen des Lebens entzogen, weil es den Einwirkungen des Rangsinnes, den Verderbnissen durch niedrige Beschäftigung, der Unruhe und Gewissenlosigkeit der Erwerbssucht nicht ausgesetzt und weil von Natur schon das Weib mehr als der Mann gemacht ist, mit der höchsten geselligen Ausbildung den Sinn für Natürlichkeit und die ursprüngliche Einfalt des Menschen zu vereinen.«
In den modernen Zeiten nach 1800 kann also der Mann, gepeinigt und ausgelaugt von den Erfordernissen der kapitalistischen Gesellschaft, nur zu Hause bei der Frau noch Frieden finden. Die Historikerin Karin Hausen beschreibt in ihrem Aufsatz, wie es dadurch zu einer »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« kam.
Dieses Phänomen können wir heute noch beobachten, wenn jeder berühmte Mann, der einen Preis entgegennimmt, seiner Frau öffentlich gefühlsduselig dankt, weil sie ihm »den Rücken freigehalten« habe. Und es gehört zum guten Ton, dass jeder weibliche Filmstar daherbetet, Ruhm und Erfolg wären zwar ganz schön, die Familie dann aber doch das Wichtigste und der einzige Halt im Leben.
Die Romantisierung der Liebe
Gleichzeitig wurde ab dem späten 18 . Jahrhundert in der Literatur ein neues romantisches Liebesbild entworfen.
An der Romantisierung der Liebe trägt vor allem Goethes Kurz-Roman »Die Leiden des jungen Werther« von 1774 eine Mitschuld. Der Roman, in dem es um einen angeschlagenen jungen Mann geht, der die Frau, die er will, nicht bekommt und sich deshalb nach einigem Hin und Her erschießt, läutet, grob gesagt, das Zeitalter des Sturm und Drang ein.
Der Bestseller fand viele Nachfolger, und zur gleichen Zeit bricht in Deutschland das Medienphänomen »Lesesucht« aus, eine Abhängigkeit von Liebesromanen, die besonders Frauen befiel.
Der Unmöglichkeit einer ewigen Liebe war man sich damals zwar noch voll bewusst, sehnte sich aber trotzdem nach dem Ideal der Liebesheirat, der Verbindung von Liebe und Sexualität.
In Friedrich Schlegels Roman »Lucinde« von 1799 wurde die Seelenverwandtschaft der Liebenden und das Ideal der geistig-sinnlichen Liebesheirat und der Dauerhaftigkeit »echter Liebe« propagiert. Das hört sich heute kitschig-utopisch an, damals war aber die Vorstellung der Ehe als erotisch empfindsame Intimbeziehung eine direkt revolutionäre Forderung.
Trotzdem war die romantische Liebe und die darauf bauende Ehe zunächst als Lebensideal einer kleinen elitären Minderheit vorbehalten, die sich ein Beharren auf dem Gefühl erlauben konnte.
In der Biedermeierzeit wurde die Liebe als wichtigstes Sujet der Herz-Schmerz-Literatur auch dem Bürgertum wichtig. Die im Roman verbreiteten neuen Leitvorstellungen wurden zum Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten.
Erst der französische Desillusionsroman bot ab Mitte des 19 . Jahrhunderts ein realistischeres Liebesbild. Und vor allem in den sogenannten Ehebrecherinnenromanen »Effi Briest«, »Madame Bovary« und »Anna Karenina« kann man viel über die Langeweile in der Ehe, über falsche Hoffnungen, zu große Erwartungen und Desillusion erfahren.
Die Liebesheirat
Die Liebesheirat wurde also erst von einer kleinen elitären Minderheit als Leitbild propagiert und zunächst von vielen »Meinungsbildnern« der Zeit abgelehnt. Die Vertreter der Gegenbewegung ordneten das Auftreten von Liebe in der Ehe eher als schädlich und kontraproduktiv ein. So schrieb einer der Lieblingsdichter der Deutschen zu jener Zeit, Jean Paul: »Die Ehe wird nicht glücklich durch die Liebe – oft das Gegenteil –, sondern durch Vernunft.«
Gegen Ende des 18 . Jahrhunderts warnten moralische Schriften und Familienzeitschriften vor dem Irrglauben, dass die Liebe in der Ehe ewig Bestand habe: »Liebe
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