Lieben: Roman (German Edition)
ich.
»Schreibst du eigentlich zu Hause?«
»Ja, ich habe ein Arbeitszimmer.«
»Ist das nicht kompliziert? Ich meine, bekommst du keine Lust, fernzusehen oder zu waschen oder so, statt zu schreiben?«
»Es klappt eigentlich ganz gut. Ich habe ein bisschen weniger Zeit als in einem Büro, aber…«
»Ja, das stimmt natürlich«, sagte er.
Er hatte blonde, halblange Haare, die sich im Nacken lockten, klare, blaue Augen, eine flache Nase, breite Wangen. Besonders kräftig war er nicht, aber auch nicht schwächlich. Er kleidete sich, als wäre er Mitte zwanzig, obwohl er Ende dreißig war. Ich hatte keine Ahnung, was er dachte, ich wusste nichts darüber, was in ihm vorging, gleichwohl war nichts Rätselhaftes an ihm. Im Gegenteil, sein Gesicht und seine Ausstrahlung erweckten den Eindruck von Offenheit. Trotzdem war da etwas, spürte ich, der Schatten von etwas anderem. Beruflich widmete er sich der Integration von Flüchtlingen in der Kommune, hatte er mir einmal erzählt, und nach ein paar weiterführenden Fragen dazu, wie viele Flüchtlinge hier aufgenommen wurden und so weiter, ließ ich das Thema fallen, weil meine Ansichten und Sympathien so weit von der Norm entfernt waren, für die er meiner Vermutung nach stand, dass dies früher oder später sichtbar werden musste, woraufhin ich je nachdem entweder als der
Böse oder als der Dumme dastehen würde, wozu ich keinen Grund sah.
Vanja, die etwas abseits der anderen Kinder auf dem Fußboden saß, schaute zu uns herüber. Ich setzte Heidi ab, worauf Vanja nur gewartet zu haben schien, denn im selben Moment stand sie auf und kam zu uns, nahm Heidis Hand und führte sie zu dem Regal voller Spielsachen, wo sie Heidi die Holzschnecke mit den Fühlern reichte, die sich drehten, wenn man sie schob.
»Guck mal, Heidi!«, sagte sie, nahm ihr die Schnecke wieder aus der Hand und setzte sie auf den Fußboden. »Du ziehst so an der Schnur. Dann dreht sie sich. Verstehst du?«
Heidi griff nach der Leine und zerrte daran. Die Schnecke kippte um.
»Nein, nicht so«, sagte Vanja. »Ich zeig’s dir.«
Sie richtete die Schnecke wieder auf und zog sie vorsichtig ein paar Meter.
»Ich habe eine kleine Schwester«, rief sie lauthals in den Raum hinein. Robin war zum Fenster gegangen, wo er auf den Hinterhof hinunterstarrte. Stella, die energisch und wahrscheinlich ganz besonders lebhaft war, weil es ihre Geburtstagsfeier war, rief aufgeregt etwas, was ich nicht verstand, zeigte auf eines der beiden kleineren Mädchen, das ihr die Puppe gab, die sie auf dem Arm gehalten hatte, holte einen kleinen Wagen, legte die Puppe hinein und schob ihn in den Flur. Achilles hatte sich Benjamin angeschlossen, einem Jungen, der ein halbes Jahr älter war als Vanja und meistens hochkonzentriert über irgendetwas hockte, einer Zeichnung oder einem Berg Legosteine oder einem Piratenschiff mit Seeräuberfiguren. Er war fantasievoll, selbständig und lieb, und saß nun mit Achilles zusammen und baute die Eisenbahn weiter, die Vanja und ich angefangen hatten. Die beiden kleineren Mädchen liefen Stella hinterher. Heidi quengelte. Sie hatte bestimmt
Hunger. Ich ging in die Küche und setzte mich neben Linda.
»Gehst du ein bisschen zu den beiden?«, sagte ich. »Ich glaube, Heidi hat Hunger.«
Sie nickte, legte flüchtig ihre Hand auf meine Schulter und stand auf. Ich benötigte einige Sekunden, um mich in den beiden Gesprächen zurechtzufinden, die am Tisch geführt wurden. In dem einen ging es um Carsharing, in dem zweiten um Autos, und ich erkannte, dass die Gespräche sich gerade erst aufgespalten haben mussten. Hinter den Fenstern herrschte kompakte Dunkelheit, die Küche war spärlich beleuchtet, die Falten in den schwedischen Gesichtern lagen im Schatten, die Augen leuchteten im Lichtschein der Kerzen. Erik und Frida und eine Frau, deren Name mir entfallen war, standen an der Arbeitsfläche, kehrten den anderen den Rücken zu und bereiteten das Essen vor. Die zärtlichen Gefühle für Vanja hatten mich vollkommen ausgefüllt. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich sah denjenigen an, der gerade das Wort führte, lächelte still, wenn eine witzige Bemerkung fallen gelassen wurde, nippte an dem Glas Rotwein, das jemand an meinen Platz gestellt hatte.
Mir gegenüber saß der Einzige, der sich von den anderen abhob. Sein Gesicht war groß, die Wangen pockennarbig, die Gesichtszüge grob, die Augen intensiv. Seine Hände auf der Tischplatte waren mächtig. Er trug ein Hemd im Stil der
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