Lieben: Roman (German Edition)
»Oslo ist genauso teuer wie Stockholm. Und in der Provinz ist es dann ein bisschen billiger.«
Er sah mich noch einen Moment für den Fall an, dass ich die Möglichkeit, die er mir bot, mich in das Gespräch einzuschalten, weiter nutzen wollte. Als das jedoch nicht der Fall war, wandte er sich wieder um und sprach weiter. Das Gleiche hatte er bei der ersten Versammlung gemacht, an der wir teilnahmen, damals jedoch mit dem Ansatz eines kritischen Untertons, denn als sich das Treffen seinem Ende zuneigte und Linda und ich immer noch nichts gesagt hatten, erklärte er, alle sollten ihre Meinung äußern, darum gehe es bei einer Elterninitiative ja gerade. Ich hatte keine Ahnung, welche Meinung ich zu den Themen hatte, die diskutiert wurden, und so blieb es Linda überlassen, leicht errötend, im Namen der Familie, Für und Wider abzuwägen, während die Versammlung sie geschlossen anstarrte. Es ging zunächst einmal darum, ob der Kindergarten den angestellten Koch entlassen sollte, um stattdessen ein Cateringunternehmen zu engagieren, was billiger war, und in einem nächsten Schritt darum, für welche Art von Essen man sich dann entscheiden sollte. Der Luchs war eigentlich ein vegetarischer Kindergarten, aus diesem Grund war er seinerzeit gegründet worden, aber mittlerweile waren nur noch zwei Elternpaare Vegetarier, und da die Kinder nicht besonders viel von den zahlreichen Gemüsevarianten hielten, die ihnen vorgesetzt wurden, überlegten viele Eltern, ob man das Prinzip nicht ebenso gut aufgeben konnte. Die Diskussion dauerte stundenlang und graste das Thema ab wie ein Fangnetz den Meeresboden. So wurde der Fleischgehalt in unterschiedlichen Wurstsorten herangezogen; es war eine Sache, dass die Prozentzahl auf den Würstchen, die man in Geschäften kaufte, aufgedruckt war, etwas anderes jedoch war es bei den Würstchen, die der Cateringservice benutzte, denn woher
sollte man wissen, wie hoch ihr Fleischgehalt war? Ich dachte, Würstchen seien Würstchen, ahnte nichts von dieser Welt, die sich an jenem Abend vor meinen Augen auftat, vor allem nicht, dass es Menschen gab, die sich derart in sie vertieften. War ein Koch, der in der Küche Essen zubereitete, für die Kinder nicht toll?, dachte ich, sagte es aber nicht, und nach einer Weile keimte in mir die Hoffnung, dass die ganze Diskussion vorübergehen würde, ohne dass wir etwas sagen mussten, bis Linus dann seinen zugleich durchtriebenen und naiven Blick auf uns richtete.
Im Wohnzimmer ertönte Heidis Weinen. Ich dachte erneut an Vanja. Normalerweise löste sie Situationen wie diese dadurch, exakt dasselbe zu tun wie die anderen. Zogen sie einen Stuhl heraus, zog sie auch einen Stuhl heraus, setzten sie sich, setzte sie sich auch, lachten sie, dann lachte sie, selbst wenn sie nicht verstand, worüber die anderen lachten. Liefen sie im Kreis herum und riefen einen Namen, lief sie im Kreis herum und rief einen Namen. Das war ihre Methode. Aber Stella hatte sie durchschaut. Als ich einmal zufällig dort war, hatte ich sie sagen hören: Du machst uns nur nach! Du bist ein Papagei! Ein Papagei! Das hatte sie zwar nicht davon abgehalten weiterzumachen, denn dafür hatte sich ihre Methode als zu erfolgreich erwiesen, aber hier, wo Stella persönlich Hof hielt, hinderten sie diese Worte wahrscheinlich daran. Dass ihr bewusst war, worum es ging, wusste ich. Mehrfach hatte sie das Gleiche Heidi vorgeworfen, sie mache ihr alles nur nach und sei ein Papagei.
Stella war anderthalb Jahre älter als Vanja, die sie maßlos bewunderte. Wenn sie mitmachen durfte, dann nur, wenn Stella Gnade walten ließ, und so erging es allen im Kindergarten. Sie war ein schönes Kind, hatte blonde Haare und große Augen, war immer gut und durchdacht gekleidet, und die Ansätze von Grausamkeit, die sie aufwies, waren nicht schlimmer
oder besser als die von anderen Kindern auch, die an der Spitze der Hierarchie standen. Das war nicht der Grund dafür, dass ich Probleme mit ihr hatte. Problematisch fand ich vielmehr, wie sehr ihr bewusst war, welchen Eindruck sie auf Erwachsene machte, und die Art, wie sie ihren Charme und ihre reine Unschuld ausspielte. Während meines Pflichtdienstes im Kindergarten hatte ich darauf keine Rücksicht genommen. Ganz gleich, mit welch leuchtenden Augen sie mich ansah, wenn sie um etwas bat, ich reagierte desinteressiert, was sie naturgemäß verwirrte und zu weiteren Versuchen anspornte, bei mir ihren Charme spielen zu lassen. Als sie uns einmal nach dem
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