Lieben: Roman (German Edition)
eine Hure. Das war die einzig treffende Bezeichnung.
Als ich eine halbe Stunde später zu Hause die Tür hinter mir schloss, drangen aus dem Wohnzimmer Stimmen zu mir hinaus. Ich steckte den Kopf zur Tür hinein und sah, das Mikaela da war. Linda und sie saßen gemütlich auf der Couch, jede mit einer Tasse Tee in der Hand. Auf dem Tisch vor ihnen standen ein Kerzenständer mit drei brennenden Kerzen, ein Teller mit drei Käsestücken und ein Korb, der mit verschiedenen Crackern gefüllt war.
»Hallo, Karl Ove, wie ist es gelaufen?«, sagte Linda.
Sie sahen mich lächelnd an.
»Okay?«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls nicht der Rede wert.«
»Möchtest du eine Tasse Tee und ein wenig Käse?«
»Nein danke.«
Ich wickelte den Schal ab, während ich dort stand, hängte ihn zusammen mit der Jacke in den Garderobenschrank, löste die Schnürsenkel und stellte die Schuhe in das Regal an der Wand. Der Fußboden darunter war von Sand und Kies ganz grau. Ich musste mich ein wenig zu ihnen setzen, um nicht extrem unhöflich zu wirken, überlegte ich, und ging ins Wohnzimmer.
Mikaela erzählte von einem Treffen mit Kulturminister Leif Pagrotsky. Er war ein wirklich kleiner Mann und hatte auf einer großen Couch gesessen, erzählte sie, mit einem dicken Kissen auf dem Schoß, das er umklammerte und in das er ihr zufolge sogar hineinbiss. Aber sie hatte großen Respekt vor ihm, er war blitzgescheit und absolvierte ein riesiges
Arbeitspensum. Welche Art von Qualifikationen Mikaela besaß, war mir nicht ganz klar, aber unabhängig davon, worin sie bestanden, kam sie mit deren Hilfe jedenfalls voran, denn knapp dreißigjährig wechselte sie von einer Spitzenposition zur nächsten. Wie so viele junge Frauen, denen ich begegnet war, stand sie ihrem Vater sehr nahe, der irgendwie mit Literatur zu tun hatte. Die Beziehung zu ihrer Mutter, einer fordernden Dame, die alleine in einer Wohnung in Göteborg lebte, wenn ich es richtig verstanden hatte, war komplizierter. Mikaela wechselte häufig ihre Liebhaber, und so unterschiedlich sie ansonsten auch sein mochten, eines hatten sie gemeinsam: Sie war ihnen stets überlegen. Von all den Dingen, die sie im Laufe der drei Jahre gesagt hatte, seit ich ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sich mir vor allem eines eingeprägt. Wir hatten in der Bar der Volksoper gesessen, und sie erzählte von einem Traum. Darin war sie auf einem Fest gewesen, und zwar ohne Hose, von der Taille abwärts nackt, also ähnlich wie Donald Duck. Das hatte sie im Traum ein wenig bedrückt, erzählte sie, aber nicht ausschließlich, die Sache hatte auch etwas Verlockendes gehabt, und dann hatte sie sich einfach mit hochstehendem Po auf einen Tisch gelegt. Was konnte dieser Traum unserer Meinung nach wohl bedeuten?
Tja-a, was konnte er bedeuten?
Als sie uns das erzählte, glaubte ich nicht, dass sie die Wahrheit sagte oder dass die Leute an unserem Tisch etwas wussten, was ich nicht wusste, denn was der Traum über sie aussagte, war ja im Grunde nichts, was sie alle und jeden wissen lassen wollte? Der Anstrich von Naivität, der so überraschend in ihrer ansonsten so distinguierten Art aufgetaucht war, ließ mich sie stets mit Sympathie und Staunen betrachten. War es das, was sie erreichen wollte? Egal, sie hatte eine hohe Meinung von Linda und wandte sich gelegentlich an sie, wenn sie einen Rat brauchte, denn sie wusste wie ich um Lindas
sichere Intuition und ihren untrüglichen Geschmack. Dass sie in Situationen wie diesen gelegentlich übermäßig auf sich selbst fixiert war, erschien mir nicht weiter verwunderlich und alles andere als unverzeihlich. Außerdem waren die Dinge, die sie über das Leben in den Korridoren der Macht erzählte, immer interessant, jedenfalls für mich, der ich so weit von dieser Macht entfernt war. Vertauschte man den Blickwinkel und betrachtete es von ihrer Seite, war sie zu Besuch bei einer engen, aber zerbrechlichen Freundin und ihrem schweigsamen Mann, und was sollte sie da sonst tun können, außer die Initiative zu ergreifen und dieser kleinen Familie etwas von ihrer Freude und Kraft abzugeben? Sie war Vanjas Patin und bei der Taufe dabei gewesen, wo sie einen so guten Eindruck auf meine Mutter gemacht hatte, dass sie sich gelegentlich immer noch nach Mikaela erkundigte. Sie hatte sich dafür interessiert, was meine Mutter erzählte, und als sich das gemütliche Beisammensein dem Ende zuneigte, war sie hineingegangen und hatte beim Spülen geholfen,
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