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L(i)ebenswert (German Edition)

L(i)ebenswert (German Edition)

Titel: L(i)ebenswert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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Ninosh zwang sich, tief durchzuatmen. Er kannte sich mit dem Meer aus. Dort fühlte er sich zuhause, er verstand die Strömungen, die Gefahren und die Macht des Wassers. Das Meer war ganz anders als die Tibba, dieser launische, unberechenbare Fluss mit seinen Strudeln und Felsen, der beständig gegen die Fesseln seines eigenen Bettes ankämpfte. Selbst in Vjalach sangen Kinder Lieder über die Wasserhexe Tibba, die jedes Mal, wenn sie blinzelte, einen Baum in einen Felsbrocken verwandelte und wenn sie sich Tee kochte, neue Strudel und Untiefen erschuf.
    Beruhig dich. Das Floß ist nicht breiter als ein Transportschiff und hat deutlich weniger Tiefgang. Wir können es schaffen!
    Ein Transporter war allerdings auch sehr viel stabiler als diese hakelige Konstruktion, die Geron gebaut hatte und würde nicht von jedem treibenden Baumstamm mit Vernichtung bedroht werden …

    Zäh vergingen die Stunden. Gerons Kräfte erlahmten allmählich, und lange würde er die Konzentration nicht mehr halten können, die er brauchte, um unentwegt nach Gefahren und Hindernissen Ausschau zu halten. Viel zu oft musste er das Floß zurück auf Kurs bringen, indem er das Ruder als Lenkstange benutzte. Mehr als einmal hatte er geglaubt, dass alles verloren war, da ihm die Kontrolle für mehrere Sekunden entrissen wurde. Auch Ninosh hatte gelegentlich eingreifen müssen, damit sie nicht auf Grund liefen. Die Schmerzensschreie seines Gefährten, der für solche Belastungen längst nicht bereit war, gellten noch immer in seinen Ohren nach. Als Geron eine flache Stelle am Ufer entdeckte, zögerte er darum nicht, darauf zuzuhalten. Sie hatten sicherlich sechzig bis achtzig Meilen hinter sich gebracht, eine Pause würde ihnen gut tun. Es wäre leichtsinnig, ein solches Geschenk der Tibba zurückzuweisen! Zudem brannte die Sonne heute unerbittlich, gerade jetzt zur Mittagsstunde. Überraschend leicht gelang es ihm anzulegen und das Floß hoch genug an Land zu ziehen, sodass es nicht abgetrieben werden gehen konnte. Ninosh half mit, ihre Ausrüstung abzuladen. Er ächzte vor Überanstrengung. Geron drehte sich zu ihm um, wollte ihm eine helfende Hand reichen – und verlor das Gleichgewicht, als plötzlich eine Planke unter ihm zerbrach. Wild mit den Armen rudernd stürzte er rücklings in die Tibba. Sofort wurde er mitgerissen.
    „Hil…“ Geron konnte kaum schwimmen. Er geriet mit dem Kopf unter Wasser, verlor die Orientierung. Nach einem entsetzlichen Moment der Atemnot prallte er gegen ein hartes Hindernis, an dem er sich instinktiv sofort festklammerte – ein Felsbrocken, glatt geschliffen von der Kraft der Strömung. Prustend festigte er seinen Halt, blinzelte, bis er das Wasser aus den Augen hatte und wieder sehen konnte. Er entdeckte Ninosh am Ufer, der nach ihm rief. Der junge Mann legte sich bäuchlings nieder und schob sein Ruder so weit er konnte in den Fluss. Es reichte nicht bis zu ihm hinüber. Da er sich ein Stück vor Geron befand, könnte es allerdings gelingen, sich darauf zutreiben zu lassen. Doch wenn er es verfehlte …
    „Du musst loslassen!“, hörte er Ninosh schreien. Diese Haltung musste ihn regelrecht umbringen, vermutlich konnte er das nur noch wenige Sekunden lang durchhalten. Geron schickte ein Stoßgebet an alle höheren Wesen, stieß sich ab, strampelte wie wild, erwischte das Ruder, klammerte sich daran fest. Er spürte, wie er gegen die Strömung zum Ufer gezogen wurde und half mit, so gut es ihm möglich war. Einige Momente später lagen sie beide nach Luft japsend auf dem Rücken.
    Geron erholte sich als erster. Während er sich aufsetzte wurde ihm bewusst, wie knapp er mit dem Leben davongekommen war – und dass sie ihre Essensvorräte verloren hatten, denn die hatte er in den Händen gehalten, als er gestürzt war.
    „Wir sind quitt“, flüsterte es neben ihm. Ninosh starrte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm hoch.
    „Zweimal hast du mich gerettet, zweimal hab ich dich gerettet. Wir sind quitt.“
    Geron nickte grimmig. Quitt mochten sie sein, doch sie waren noch lange nicht in Sicherheit.
    Und er war schon wieder bis auf die Haut durchnässt. Verdammte Tibba!

    Unweit der Stelle, wo sie angelegt hatten, hatte eine Art natürlicher Erdwall so etwas wie einen See geschaffen. Vielleicht fünfzig Schritt im Durchmesser, eine Oase der Ruhe. Das Wasser war frisch, die Tibba sorgte für Zu- und Abfluss. Hier gab es etliche Trauerweiden, die am Ufer wie auch im See selbst wuchsen – offensichtlich gab es

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