Lieber Feind
kleine Hattie hatte noch nie im Leben von Kommunion gehört; sie war überhaupt an die Kirche nicht sehr gewöhnt, da die Sonntagsschule für ihre einfachen religiösen Bedürfnisse genügt hatte. Aber in ihrem neuen Heim besuchte sie beide, und eines Tags wurden zu ihrer freudigen Überraschung Erfrischungen geboten. Sie wurde allerdings übergangen. Sie sagte jedoch dazu nichts; sie ist gewöhnt, übergangen zu werden. Aber als sie aufbrachen, sah sie, daß der kleine silberne Becher zufällig in der Bank liegengeblieben war, und in der Annahme, er sei ein Andenken, das man mitnehmen könne, steckte sie ihn in die Tasche.
Zwei Tage später kam er als der kostbarste Schmuck ihres Puppenhauses zutage. Hattie hatte offenbar vor langer Zeit einen Satz Puppengeschirr in der Auslage eines Spielzeugladens gesehen und hatte seitdem immer davon geträumt, selbst welches zu besitzen. Der Kommunionsbecher war nicht genau dasselbe, aber er erfüllte den Zweck. Wenn jetzt unsere Familie nur ein bißchen weniger Religion und ein bißchen mehr Verstand gehabt hätte, würde sie den Becher völlig unversehrt zurückgegeben haben, wäre mit Hattie zum nächsten Spielzeugladen marschiert und hätte ihr etwas Geschirr gekauft. Statt dessen packten sie das Kind und seine Sachen in den ersten Zug, den sie erreichen konnten, schoben sie zu unserer Vordertür herein, und verkündeten laut, sie sei ein Dieb.
Ich freue mich zu sagen, daß ich dem empörten Dekan und seiner Frau eine so gründliche Strafpredigt hielt, wie sie sie gewiß noch nie von der Kanzel gehört haben; ich entlehnte einige Kraftausdrücke aus Sandys Sprachschatz und schickte sie recht gedemütigt nach Hause. Die arme kleine Hattie ist nun wieder zurück, nachdem sie mit so großen Hoffnungen ausgezogen war. Es hat eine fürchterlich demoralisierende Wirkung auf ein Kind, mit Schande in die Anstalt zurückgeschickt zu werden, vor allem, wenn es sich nicht bewußt ist, ein Verbrechen begangen zu haben. Es gibt ihm das Gefühl, daß die Welt voll unbekannter Fallen ist, so daß es Angst hat, noch einen Schritt zu tun. Ich muß nun alle Energie daransetzen, einen zweiten Satz Eltern für sie zu finden, und zwar solche, die nicht so alt und gesetzt und gut geworden sind, daß sie ihre eigene Kindheit völlig vergessen haben.
Sonntag.
Ich habe vergessen zu erzählen, daß unser neuer Farmer hier ist, Turnfelt mit Namen; und seine Frau ist eine Liebe, gelbes Haar und Grübchen. Wenn sie eine Waise wäre, könnte ich sie sofort unterbringen. Wir dürfen sie nicht unbenutzt lassen. Ich habe einen wunderschönen Plan: am Farmerhaus einen Anbau zu machen und unsere neuen Kücken unter ihre behäbige Fürsorge zu stellen, um sicher zu sein, daß sie nichts Ansteckendes haben, und um so viel Proletenausdrücke wie möglich auszumerzen, bevor sie auf unsere anderen vollkommeneren Hühnchen losgelassen werden.
Wie kommt Dir das vor? Es ist sehr notwendig, in einer Anstalt, die so voll von Leben, Bewegung und Aufregung wie die unsere ist, einen isolierten Punkt zu haben, wo wir die Einzelfälle hinstecken können, die persönliche Behandlung nötig haben. Einige unserer Kinder haben Nerven mitbekommen, und eine Zeit stiller Beschaulichkeit wäre angezeigt. Ist mein Wortschatz nicht fachmännisch und wissenschaftlich? Der tägliche Verkehr mit Dr. Robin MacRae ist außerordentlich erziehlich.
Seit Turnfelt da ist, solltest Du unsere Schweine sehen, sie sind so sauber und rosa und unnatürlich, daß sie sich gegenseitig nicht mehr erkennen, wenn sie aneinander vorübergehen.
Unser Kartoffelfeld ist auch nicht wiederzuerkennen. Es ist mit Stricken in so viele Quadrate eingeteilt worden wie ein Schachbrett, und jedes Kind hat seinen Anspruch angemeldet. Samenkataloge sind unsere einzige Lektüre.
Noah ist gerade von einem Gang in die Stadt zurückgekommen, wo er sich Zeitungen für seine Freizeit gekauft hat. Noah ist eine sehr kultivierte Person; er kann nicht nur tadellos lesen; er trägt auch eine Hornbrille, während er liest. Er brachte von der Post auch einen Brief von Dir, vom Freitag. Es schmerzt mich zu hören, daß Du „Gösta Berling“ nicht magst, und Jervis ebenfalls nicht. Mein einziger Kommentar ist: „Was für ein erschreckender Mangel an literarischem Geschmack ist in der Familie Pendleton!“
Dr. MacRae hat einen zweiten Doktor zu Besuch; einen sehr melancholischen Herrn, der eine Privatanstalt für Psychopathen leitet, und glaubt, es gebe nichts Gutes im
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