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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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Schreiben von gestern hegt vor. Ich habe noch niemand gekannt, dessen literarischer Stil so genau seinem gesprochenen Wort entspricht.
    Und Sie wären sehr verbunden, wenn ich meine blöde Angewohnheit, Sie „Feind“ zu nennen, ablegen würde? Ich werde meine blöde Angewohnheit, Sie Feind zu nennen, ebenso schnell aufgeben, wie Sie Ihre blöde Angewohnheit fallen lassen, bös und beschimpfend und vorwurfsvoll zu werden, sobald die kleinste Sache schief geht.
    Ich verreise morgen auf vier Tage nach New York.
    Besten Gruß
    S. McBride.

Chez les Pendletons, New York
    Mein lieber Feind!
    Ich hoffe, dieses Briefchen findet Sie in einer freundlicheren Gemütsverfassung als die, in der ich Sie zuletzt gesehen habe. Ich wiederhole mit Betonung, daß es nicht auf die Nachlässigkeit der Leiterin unserer Institution zurückzuführen ist, wenn die beiden neuen Masernfälle auftraten, sondern vielmehr auf die unglückselige Anatomie unseres altmodischen Gebäudes, welche die richtige Isolierung ansteckender Fälle nicht erlaubt.
    Da Sie gestern nicht so gnädig waren, uns vor meiner Abreise zu besuchen, konnte ich keine Ab" schiedsmitteilungen machen. Deshalb schreibe ich, mit der Bitte, daß Sie ein kritisches Auge auf Mamie Prout werfen. Sie ist über und über mit roten Flecken bedeckt, welche Masern sein können, aber es, wie ich hoffe, nicht sind. Mamie ist sehr leicht gefleckt.
    Ich kehre am nächsten Montag um 6 Uhr ins Gefängnisleben zurück.
    Mit den besten Grüßen
    S. McBride,

    PS. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich sage, daß Sie nicht die Sorte Arzt sind, die ich bewundere. Ich habe sie gern pausbäckig und rundlich und lächelnd.

John-Grier-Heim,
    9. Juni.
    Liehe Judy!
    Für ein junges Mädchen auf Besuch, das stark auf Eindrücke reagiert, seid Ihr eine fürchterliche Familie. Wie könnt Ihr erwarten, daß ich zurückkomme und zufrieden im Anstaltsleben versinke, nachdem ich ein so glückliches Bild häuslicher Eintracht gesehen habe, wie es die Familie Pendleton bietet?
    Auf der ganzen Rückreise im Zug habe ich mich nicht mit den zwei Romanen, vier Zeitschriften und der einen Pralinen-Schachtel beschäftigt, die Dein Gatte so fürsorglich beigesteuert hatte, sondern die Zeit im Geist mit einer Heerschau der jungen Männer meiner Bekanntschaft verbracht, um festzustellen, ob ich nicht einen entdecke, der ebenso nett ist wie Jervis. Und das tat ich auch! (Sogar etwas netter, glaube ich.) Von diesem Tag an ist er das bezeichnete Opfer, die Beute, die nicht mehr entrinnen kann.
    Ich würde die Anstalt nur sehr ungern aufgeben, nachdem sie mich so erregt hat, aber wenn ihr nicht bereit seid, sie in die Hauptstadt zu verlegen, sehe ich keine andere Möglichkeit.
    Der Zug hatte furchtbar viel Verspätung. Wir standen dampfend auf einem Nebengleis, während zwei eingeschobene Züge und ein Güterzug an uns vorbeirasten. Ich glaube, es ist etwas kaputt gewesen, so daß die Maschine repariert werden mußte. Der Schaffner war beruhigend, aber nicht gerade mitteilsam.
    Es war 7.30 h, als ich, der einzige Reisende, in unserer unbedeutenden kleinen Station ausstieg: in pechschwarze Dunkelheit und in Regen, ohne Schirm und mit dem kostbaren neuen Hut auf dem Kopf. Kein Turnfelt war da, um mich abzuholen, nicht einmal ein Fiaker. Gewiß hatte ich nicht die genaue Zeit meiner Ankunft telegrafiert, aber trotzdem kam ich mir einigermaßen vernachlässigt vor. Irgendwie hatte ich mir unklar vorgestellt, daß alle einhundertunddreizehn am Bahnsteig aufgereiht sein würden, Blumen streuend und Willkommenslieder singend. Gerade als ich dem Stationsvorsteher sagte, ich würde auf seinen Telegraphen aufpassen, während er über die Straße läuft und in der Gaststube nach einem Gefährt telefoniert, kamen um die Ecke zwei große Scheinwerfer gerast und zielten genau auf mich. Sie hielten an, — zehn Zentimeter weiter, und sie hätten mich überfahren. Ich hörte, wie Sandys Stimme sagte:
    „God, god, Miß Sallie McBride! Dat schint mi de iligste Tid, dat Se to Hus komen deihn und mi die Gören avnehmen.“
    Der Mann war tatsächlich dreimal auf gut Glück dagewesen, um mich zu holen, da der Zug ja irgendwann einmal ankommen mußte. Er stopfte mich und meinen neuen Hut und die Koffer und Bücher und Pralinen alle unter sein Notdach, und wir plantschten los. Mir war wirklich, als komme ich nach Hause, und ich war ganz traurig beim Gedanken, einmal fortgehen zu müssen. Du sollst wissen, daß ich im Geist schon abgedankt,

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