Lieber Frühling komm doch bald
behandschuhte Hand aus dem Dunkel hervor, packte sie am Handgelenk und zog sie zum Fluß hinüber. Sie schrie laut auf. Im gleichen Moment hörte sie ein Geräusch in der Ferne. Schritte? Kam jemand vom Gutshaus her? Ja, es hörte sich an wie Schritte. Es konnten Schritte sein.
Auch der Motorradfahrer hatte das Geräusch gehört. Er hielt inne. Der Griff seiner Hand lockerte sich. «Hilfe!» schrie Wendy Thompson. «Hilfe!» Sie riß sich los und lief taumelnd die Straße zurück. Im Laufen hörte sie, wie das Motorrad davonfuhr. Das Geräusch wurde immer leiser. Aber war der Kerl endgültig weggefahren, oder hatte er wieder angehalten? Lauerte er irgendwo in der Finsternis?
Die Schritte waren nähergekommen. Hatte man etwa im Hause ihr Verschwinden bemerkt und suchte jetzt nach ihr? Wie töricht stand sie dann da! Aber das machte ihr nach der ausgestandenen Angst nichts mehr aus.
«Hallo», sagte eine helle Stimme. Vor ihr stand der kleine Junge.
«Hallo», sagte Wendy Thompson erleichtert.
«Wo wollten Sie denn hin?»
«Nach Hause, nach Ingerby.»
«Da gehen Sie aber in die falsche Richtung.»
«Ich habe deine Schritte gehört, da habe ich gewartet», sagte sie.
Gaylord zappelte vor Aufregung. «Ich habe die weiße Nonne gehört! hat sie geschrien. » Er ahmte sie täuschend nach. «Haben Sie’s auch gehört?»
«Nein.»
«Ja, ich weiß, die meisten Leute können es nicht hören. Die Tante von Henry Bartlett sagt, man muß süchische Kräfte haben.»
«Psychische Kräfte, meinst du?»
«Ja», sagte er bewundernd.
Sie griff nach seiner Hand. Alle ihre Ängste waren wie verflogen. Sie dachte nur an den Jungen und an die Gefahr, die ihm drohte: Er gehörte zum Haus und sollte daher, wie der Motorradfahrer gesagt hatte, ertränkt werden. Sie mußte ihn ins Haus zurückbringen, ohne ihn zu ängstigen, und mußte seine Eltern warnen. In der Ferne konnte sie zwischen den Bäumen einen Lichtschein erkennen. Sicher lauerte der Kerl noch auf dem Uferweg.
Aber sie hatte nicht mit Gaylord gerechnet. Und Gaylord war zu dem Schluß gekommen, daß die Dame sich fürchtete. Kein Wunder, dachte er, nach seiner unvorsichtigen Bemerkung über die weiße Nonne. Er kam sich auf einmal sehr groß und erwachsen vor, wie ein Held oder wie der Ritter Archibald, von dem ihm Paps erzählt hatte. Er mußte sie beschützen. Sie war furchtbar nett. Fast noch netter als die Verkäuferin im Supermarkt. «Ich kann ja ein Stück mitkommen», sagte er großmütig und freundlich. «Manchmal fallen Leute in den Fluß, da unten, wo er so nahe an den Weg kommt. Die werden dann glatt weggeschwemmt.»
«Nein, nein. Komm, wir gehen zu dir nach Hause.»
Sie hatte also tatsächlich Angst. Tröstend sagte er: «Jetzt kann uns nichts mehr passieren. Die Tante von Henry Bartlett sagt, die weiße Nonne erscheint nie zwei Leuten auf einmal.»
«So, nun komm», sagte sie energisch.
Aber er weigerte sich. «Nein, nein, ich komme ein Stück mit, wenn Sie wollen», sagte er beruhigend und tat einen Schritt in Richtung des Dorfes. Er war fest entschlossen, die Dame zu beschützen. Wenn doch bloß ein Geist käme! dachte er. Wenn die Dame doch bloß in den Fluß fallen wollte, damit er sie retten konnte.
Doch die Dame war, so zart sie aussah, anscheinend sehr eigensinnig. Sie packte ihn fest an der Hand und zog ihn zurück zum Haus. Gaylord war empört. Er schob die Unterlippe vor und sagte: «Sie wollten doch ins Dorf.»
«Mein lieber Junge», sagte sie leicht gereizt. «Ich kann dich doch nicht allein lassen in der Dunkelheit.»
«Warum denn nicht?»
«Weil du noch zu klein bist.»
Das war zuviel. «Ich werde acht!»
«Du wirst acht? Dann kannst du aber auch schneller gehen.» Sie hatte in der Ferne das Motorrad wieder gehört.
Er riß sich los. Jetzt wollte er ihr zeigen, wie schnell er gehen konnte. «Meine Güte!» keuchte sie. «Da komme ich ja kaum mit.»
Er ging noch schneller. Sie blieb ein wenig zurück. Sein Zorn verrauchte. Zutraulich erzählte er ihr: «Zu Hause hat irgendwer sein Auto genau da stehen lassen, wo Tante Bea hineinfahren konnte. Schön blöd, was?»
«Ja, sehr. Das war nämlich ich.»
«Sie waren das?» Er blieb stehen und wartete auf sie. Seine warme kleine Hand schob sich in die ihre. «Opa sagt immer, wenn Tante Bea unbedingt Auto fahren muß, dann müßten eigentlich immer zwei Männer vor ihrem Auto herlaufen und dafür sorgen, daß sie freie Bahn hat.»
Die erleuchteten Fenster des großen
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