Lieber Frühling komm doch bald
Miss Thompson würdigte sie keines Blickes.
Wendy Thompson spürte, woher der Wind wehte. Mit ruhiger Stimme sagte sie: «Ich traf Ihren kleinen Sohn unten am Fluß, Mrs. Pentecost, und habe ihn so schnell wie möglich nach Hause gebracht, weil ich mir dachte, Sie könnten sich vielleicht ängstigen.»
«Ja, geängstigt habe ich mich allerdings. Aber ich danke Ihnen, Miss Thompson», sagte sie etwas steif. Dann wurde ihr klar, wie sehr sie und Jocelyn Miss Thompson vernachlässigt hatten, und sie sagte: «Bitte, kommen Sie doch herein. Sie wollten doch nicht etwa zu Fuß nach Hause gehen?»
«Doch. Verstehen Sie, ich hatte das Gefühl, sehr ungelegen zu kommen, und da wollte ich -»
Sie standen in der Diele. Wendy Thompsons Wangen waren gerötet von der Anstrengung des Laufens, und ihre Augen funkelten vor Freude darüber, daß sie den Jungen heil zurückgebracht hatte. Jocelyn sah ein völlig anderes Wesen vor sich als die verschreckte kleine Person, die May ihm beschrieben hatte. Er sagte: «Ich furchte, wir haben Sie sehr schlecht behandelt, Miss Thompson.»
«Aber keine Spur, Mr. Pentecost. Es war nicht recht, daß ich einfach so hergekommen bin.» Sie war erleichtert, daß er so gar nicht dem Bild ähnelte, das sie sich von ihm gemacht hatte, dem Mann, der sie streng über seine Schreibmaschine hinweg anstarrte. Sie sah ihn lächelnd an.
Gaylord hatte sich bis jetzt ungewöhnlich zurückgehalten. Er wußte, es gab Augenblicke im Leben, in denen man besser schwieg, und sein Instinkt sagte ihm, daß dies ein solcher Augenblick war. Doch jetzt mußte er etwas loswerden. «Mummi, ich hab die weiße Nonne gehört!» Er ließ eine höchst realistische Nachahmung der Hilferufe von Wendy Thompson folgen.
«Gaylord, du bist jetzt ruhig, sonst kommt uns die Feuerwehr auf den Hals.» Und da folgte auch schon die gefürchtete Frage: «Was hast du überhaupt unten am Fluß zu suchen? Du weißt doch -»
«Er hat mich beschützt», erklärte Miss Thompson.
«Wovor?» erkundigte sich May kühl.
«Vor der weißen Nonne, Mummi! Und vor dem Wasser - ich meine, vor dem Reinfallen.»
«Vielleicht darf ich dazu etwas sagen», begann Miss Thompson.
«Gaylord, du machst dich jetzt fertig und gehst ins Bett!» sagte Mummi.
Gemein! dachte Gaylord. Aber er hatte Erfahrung im Feilschen: darin hätte er es mit einem orientalischen Teppichhändler aufnehmen können. Nur erreichte er diesmal nicht soviel wie sonst, weil ein Dritter zugegen war und er sich dadurch im Nachteil befand. «Also Mummi, ich-»
«Gut, zehn Minuten. Aber nicht eine Minute mehr. Kommen Sie, Miss Thompson, wir gehen ins kleine Wohnzimmer.»
11
Schwarz und tief hing der Himmel über der stillen Erde. Kein Baum, kein Grashalm rührte sich. Doch dann kam ein leiser Hauch, ein zweiter folgte, dann ein langes anhaltendes, tiefes Seufzen, das bald zu einem Pfeifen und schließlich zu einem Heulen anschwoll. Eine Flocke, federleicht, trieb durch die Dunkelheit, dann noch eine und noch eine, immer mehr, bis es Millionen von Flocken waren, die tanzend herum wirbelten. John Pentecost reagierte auf jeden Wetterumschwung so empfindlich wie ein Barometer. Er hörte den aufkommenden Wind. Doch keiner hörte den Schnee, der das einsame Haus mit einem weißen Laken zudeckte und eifrig alle Wege auslöschte.
Derek Bates fuhr durch den Flockenwirbel nach Hause. Er kochte vor Wut. Miss Thompson - er hatte sie erkannt, sie war Lehrerin an der Grundschule, und er wußte auch, wo sie wohnte - hatte ihn überlistet, bloß durch ihr blödes Gerede. Trotzdem, wenn nicht jemand dazwischengekommen wäre, hätte er sie in den Fluß geworfen, aber ganz glatt. Mit polternden Schritten betrat er das Haus, warf seine Lederjacke und seine langen Stiefel in der Küche auf den Fußboden und ließ sich vor dem Fernsehapparat im Wohnzimmer in einen Sessel fallen. «Wie ist es draußen?» fragte sein Vater. «Schneit», antwortete Derek. Er hatte keine Lust, mit seinem Vater zu reden. Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Ein Mann, der sich einen Strumpf über den Kopf gezogen hatte, schlich sich in ein Zimmer, in dem eine alte Frau schlief. Jeden Augenblick mußte sie aufwachen. Da! Jetzt! Ihr Mund stand offen, die Augen quollen ihr aus dem Kopf. Derek war begeistert. Toll, dachte er. Irre komisch! Und der Kerl mit der Strumpfmaske sah aus wie ein Roboter, gar nicht wie ein Mensch, wie er da immer näherkam, Schritt für Schritt. Derek atmete schneller. Das sollte man mal mit
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