Lieber Frühling komm doch bald
Hauses waren jetzt schon ganz nahe. Aber fast ebenso nahe war das Geräusch des langsam fahrenden Motorrads. «Komm, jetzt laufen wir um die Wette», sagte Miss Thompson.
Wie ein Pfeil schoß Gaylord davon. Sie folgte, und fast gleichzeitig erreichten sie die Haustür, keuchend und lachend - die besten Freunde. Das Motorrad entschwand in der Dunkelheit.
Was war denn eigentlich mit dieser Miss Thompson, dachte Jocelyn Pentecost. Wo steckte sie? Und was wollte sie? Vielleicht machte sie eine Meinungsumfrage. Vielleicht wollte sie wissen, was man vom Fernsehprogramm hielt. Wenn sie bei Opa hängengeblieben war, um so besser. Da kam sie jedenfalls auf ihre Kosten, dachte er schadenfroh. Er konnte nichts dafür. May hatte gesagt, er sollte Miss Thompson in seinem Arbeitszimmer empfangen. Also wartete er.
May kam ins Zimmer gestürzt. «Ich werde verrückt!» sagte sie. «Draußen ist das große Chaos ausgebrochen, und du sitzt hier und träumst!»
«Ich warte auf Miss Thompson.»
«Da kannst du lange warten. Sie ist weg.»
«Um so besser. Wahrscheinlich wollte sie gar nicht zu mir und ist längst bei jemand anders gelandet.»
«Keine Ahnung. Aber sie hat sich nicht verabschiedet. Ihr Auto ist noch hier, oder vielmehr das, was davon übrig ist.» Sie sah seinen erstaunten Blick. «Bea ist in ihren Wagen reingefahren.»
«Nein!»
«Doch. Was hast du denn geglaubt, woher der Krach kam?»
«Mein Gott. Ist jemand verletzt?»
«Nein, zum Glück nicht.»
«Und was ist nun mit Miss Thompson?»
«Sie ist schuld - behauptet Bea. Aber Miss Thompson war im Hause, als es geschah.»
«Und nun ist sie verschwunden?»
«Ja, spurlos. Wie der Schnee vom vorigen Jahr. Und noch etwas, Jocelyn. Ich will keine unnötige Aufregung machen, aber...» Ihre Stimme zitterte plötzlich. «Gaylord ist... Ich weiß nicht, wo er ist. Er ist nirgends zu finden.»
Er sah sie einen Augenblick wortlos an. «Und du meinst -»
«In seinem Zimmer ist er nicht. Und draußen habe ich mir schon die Kehle heiser geschrien.»
Ihm kam eine Idee. «Der ist untergetaucht!» rief er. «Um Beas Küssen zu entgehen.»
«Das habe ich auch gedacht. Aber er würde doch bestimmt kommen, wenn er mich rufen hörte. Ach, laß nur, es ist sicher gar kein Grund zur Aufregung.»
Er sah sie nachdenklich an. «Aber du machst dir Sorgen.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ja, tue ich wohl. Besonders nach der Sache mit dem Motorradfahrer.»
«Und du hast überall gesucht?»
«Ja, überall: in der Scheune, auf dem Heuboden - in all seinen Lieblingsverstecken.»
Hat ihn auch sonst keiner gesehen?»
«Nicht in der letzten Stunde oder so. Ich würde mir auch gar keine Gedanken machen, wenn nicht beide verschwunden wären. Was diese Miss Thompson allerdings mit dem Motorradfahrer zu tun haben könnte, ahne ich nicht. Immerhin-»
Schon verknüpften sich in seinen Gedanken all die verschiedenen Fäden. Es war die brutale Gewalt, die immer wieder auf alles ihre Schatten warf. «Ich rufe die Polizei an», sagte er entschlossen.
Diesmal war es May, die noch zögerte. «Ich weiß nicht, Liebling - ich glaube, das sollten wir nicht tun. Der Junge muß ja irgendwo in der Nähe sein. Und diese Miss Thompson ist vielleicht einfach nach Hause gegangen.»
«Ohne irgendeinem Menschen etwas zu sagen? Hat sie denn gesagt, wo sie zu Hause ist.»
«Nein. Wir wissen nichts von ihr außer ihrem Namen. Das läßt mir eben keine Ruhe.» Eindringlich blickte May ihren Mann an. «Jocelyn, bitte. Du weißt, du bist manchmal mit deinen Gedanken woanders... Überleg doch mal ganz fest, ob du nicht irgendwann einmal eine Miss Wendy Thompson kennengelernt hast.»
«Wie sieht sie aus?»
«Anfang Dreißig. Nicht sehr schick, aber nett. Klein, zierlich. Sie wirkt sehr unsicher, aber sonst eher wie ein lieber netter Mensch, würde ich sagen.»
«Nein.» Er hatte aufmerksam zugehört und sah sie jetzt grinsend an. «Klingt nicht nach einem meiner Seitensprünge.» Er wurde wieder ernst. «Entschuldige, mein Herz.» Er griff nach dem Telefon und wollte den Hörer abnehmen. «Halt!» sagte May. «Warte mal.» Sie horchten. «Das ist doch Gaylord!» sagte May. Und sie liefen beide zur Haustür.
Heiterkeit und Gelassenheit zählten zu Mays Stärken. Trotzdem mußte sie sich sehr beherrschen, um nicht in Zorn zu geraten, als sie die beiden, um die sie sich so geängstigt hatte, fröhlich und atemlos vor der Haustür stehen sah. «Gaylord, wo bist du gewesen?» fragte sie in scharfem Ton.
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