Lieber Frühling komm doch bald
Jocelyn war jetzt nicht mehr der halbwegs erfolgreiche Schriftsteller, nicht mehr der gute Ehemann und liebevolle Vater - er war ein überaus empfindliches Instrument, und seine Augen, Ohren und Finger waren zum Steuerungsmechanismus einer Maschine geworden, die mit den Elementen zu kämpfen hatte. Da war die Straße vor ihm, der Schnee und der Wagen, mit dem er zusammengewachsen war, und sonst gab es nichts mehr in der weiten Welt.
Aber es gab doch noch andere Dinge, die er wahrnahm. Zum Beispiel Miss Thompsons kleines, blasses Gesicht, das schwach beleuchtet wurde von den Lämpchen am Armaturenbrett, oder den weichen Pelzmantel wenige Zentimeter von seiner Schulter, oder ihre Hände, die gefaltet auf ihren Knien lagen. Was für eine zarte Person, wie empfindsam! Wie selten sah man solche Frauen heutzutage! Es tat gut, es beflügelte ihn förmlich, sich alle Mühe zu geben, um sie sicher durch den Schneesturm zu bringen. Galant erwiderte er: «Sie nutzen mich nicht aus, Miss Thompson. Ich freue mich, daß ich Ihnen helfen kann.»
«Klar, wir freuen uns sogar sehr», sagte Gaylord, der sich in Sachen Ritterlichkeit nicht von seinem Paps übertrumpfen lassen wollte. «Ritter Archibald hat bestimmt auch nie abends eine Dame allein nach Hause gehen lassen.»
Miss Thompson war tief gerührt. Und plötzlich erkannte sie etwas sehr Erstaunliches: Sie war richtig glücklich. Der Nachmittag hatte so scheußlich und so peinlich angefangen. Und doch waren alle, jeder einzelne, so nett zu ihr gewesen: Jocelyn Pentecost, der junge Mann mit dem Sportwagen, der kleine Junge und sogar der alte Herr, solange er nicht schimpfte. Bei Mrs. Pentecost war sie nicht ganz so sicher. Und auch nicht bei der alten Dame, die in ihren Mini hineingefahren war. Aber die Männer! Miss Thompson war den Umgang mit Männern nicht gewohnt. Deshalb hatte sie immer etwas Angst vor ihnen gehabt! Wie gut, daß es noch solche Menschen gab! In gespielt strengem Ton sagte sie: «Wir haben immer noch keinen Termin für Ihre Lesung vereinbart, Mr. Pentecost.»
Sie hatte sich nicht den günstigsten Moment ausgesucht. Jocelyn Pentecost wurden gerade zwei sehr unangenehme Tatsachen klar: In dem wilden Schneetreiben hatte er die Rechtsabbiegung nach
Shepherd’s Warning verpaßt und fuhr nun immer weiter nach Norden, während er längst nach Südosten fahren sollte. Er mußte entweder umkehren — ein Kunststück auf der schmalen verschneiten Straße - oder noch meilenweit über die einsame baumlose Heide fahren, bis er an die nächste Rechtsabzweigung kam. Aber noch unangenehmer war die zweite Tatsache: Der Motor hatte angefangen zu stottern - es klang, als habe er eine Gräte verschluckt.
Seine Kassandra auf dem Rücksitz ließ ihn nicht lange im Zweifel. «Paps, du hast die Kreuzung verpaßt. Ganz bestimmt. Wir sind schon dran vorbei. Wir sind schon beinahe in der Niemandsheide.» Grimmig schweigend fuhr Jocelyn weiter. «Mensch, da wird ja ein Sturm sein, auf der Heide», freute sich Gaylord. «Der kann uns glatt umwehen. Der Onkel von Henry Bartlett ist da schon einmal umgeweht.»
«So, wirklich?» fragte Miss Thompson höflichkeitshalber.
«Ja.» Und dann verkündete er stolz: «Du, Paps, ich glaube, der Motor setzt gleich aus.»
Jocelyn erwiderte nichts. Miss Thompson sagte ängstlich: «Es kommt mir schon eine Weile so vor, als ob - und dabei ist doch alles meine Schuld, Mr. Pentecost, weil ich...»
Im Augenblick konzentrierte sich Jocelyn ganz auf den Ballen seines rechten Fußes - bittend, flehend, drängend. Es half alles nichts, der Motor spuckte, hustete und starb. Die Schneeflocken machten jetzt den Eindruck, als wollten sie den stehengebliebenen Wagen so schnell wie möglich mit einer weißen Decke versehen und allen Blicken entziehen.
«Hier kommt nie jemand her», sagte Gaylord. «Vielleicht müssen wir tagelang warten, bis einer kommt.»
«Alles meine Schuld», sagte Miss Thompson. «Es tut mir ganz schrecklich leid, wirklich.»
Jocelyn versuchte den Motor anzulassen. Ein kratzendes Geräusch, aber kein Funke Leben. «Wissen Sie, Miss Thompson», sagte Gaylord, «ich habe mir etwas überlegt. Auch wenn sie einen Suchtrupp losschicken, hierher kommen die nie. Die suchen auf dem Weg nach Shepherd’s Warning, aber nicht hier. Uns finden die hier nie im Leben.»
Jedesmal, wenn sie eine Panne hatten, sagte May zu Jocelyn: «Willst du nicht mal unter die Haube gucken, Lieber?» Und jedesmal befolgte Jocelyn diese Aufforderung ohne
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