Lieber Frühling komm doch bald
verschneiten Wiesen, den Fluß - und auf den Schneemann. Aus dem sonnigen Morgen war ein grauer Nachmittag geworden. Und mit dem Sonnenschein war auch die Freude geschwunden. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie plötzlich neben sich eine helle Stimme hörte: «Oh, fahren Sie fort? Wie schade! Ich möchte, daß Sie immer hierbleiben, Miss Thompson.»
«Gaylord!» Sie hatte so sehr gehofft, der Junge würde kommen und ihr auf Wiedersehen sagen.
Aber das war nicht alles, was Gaylord auf dem Herzen hatte. «Miss Thompson, ich habe Sie noch lieber als Miss Jones von der Wurstabteilung im Supermarkt.»
«Ist das wahr?» fragte sie entzückt.
«Ja, viel lieber. Miss Thompson?»
«Ja, mein Junge?»
«Würden Sie mich wohl heiraten, wenn ich groß bin?»
«Und wie gern, Gaylord! Aber vielleicht bin ich dir dann schon zu alt.»
«O nein, bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht.»
Liebevoll fuhr sie ihm durchs Haar. «Also gut, Gaylord.»
Er sah sie zweifelnd an. «Heiraten Sie auch niemand anders, Miss Thompson?»
«Nein, nein, keine Sorge, mein Kleiner.»
Jocelyn kam jetzt aus der Garage herausgefahren. «So, bitte, steigen Sie ein, Miss Thompson.»
Sie stieg ein und sah, daß Gaylord verloren stehengeblieben war. Jetzt winkte er. Noch einmal glitt ihr Blick über den Garten, den Schneemann und das Haus. Auf den Fenstern lag der Glanz der Nachmittagssonne.
Die Winterdämmerung kam früh. Sie kroch über Felder, Wiesen und Wege und umhüllte die Höfe, die Dörfer. Sie deckte alles zu. Als Jocelyn Pentecost und Miss Thompson in Ingerby ankamen, brannten in den Straßen schon die Laternen. Miss Thompsons Häuschen sah kalt und dunkel aus. «Ich bringe Sie noch schnell hinein», sagte Jocelyn und hielt ihr die Gartenpforte auf. Sie ging voran, schloß die Haustür auf und machte Licht in der Diele. «Bitte, kommen Sie doch herein», bat sie. «Ich mache Ihnen schnell eine Tasse Tee.»
«Nein, danke, wirklich nicht. Ich will nun gleich zurückfahren. Ich fürchte, es wird wieder schneien.»
Sie standen sich verlegen gegenüber. Sie wußten nichts zu sagen und nahmen ihre Zuflucht zu Förmlichkeiten.
«Ja, das verstehe ich. Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.» Sie streckte die Hand aus und lächelte. «Mr. Pentecost, ich habe Ihnen viele Umstände gemacht. Ich danke Ihnen sehr für alles - daß Sie so geduldig waren und... überhaupt, für alles.»
«Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen», sagte er ernsthaft. «Ja, und dann sehen wir uns also im April.» Ein Händedruck, dann wandte er sich um und ging hinaus. Sie wartete, bis er davongefahren war. Dann schloß sie die Haustür und ging ins Wohnzimmer. Es war sehr kalt. Und als sie Licht machte, sah sie auch gleich, warum: die Fensterscheibe war zersplittert. Und vor dem Kamin lag ein Stein, an dem mit einem Gummiband ein Stück Papier befestigt war. Und auf dem Papier entdeckte sie eine ungeschickte Zeichnung: ein Motorrad.
Tiefe Dunkelheit lag über der Niederung am Fluß. Das einzige Licht weit und breit waren die erleuchteten Fenster des Hauses von John Pentecost und des Verwalterhauses.
Julia Mackintosh lag zusammengerollt unter ihrer Bettdecke und blätterte in dem schönsten Buch, das sie besaß, einem Bildband über Ballett, der ihrer Mutter gehört hatte. Sie betrachtete die Bilder im Licht einer Taschenlampe, denn Tante Elspeth hatte ihr verboten, im Bett zu lesen. Sie konnte sie immer wieder anschauen. Da waren Bilder von den großen Ballettänzern, von Anna Pawlowa als «Sterbender Schwan», von Sergej Dinghilen und seinen «Ballets Russes» in Paris und von Margot Fonteyn, der Primaballerina assoluta in London - die ganze strahlende Welt des Balletts, von der ihr die Mutter so viel erzählt hatte, war hier in diesem herrlichen Buch versammelt. Julia träumte. Irgendjemand, vielleicht sogar die große Margot Fonteyn, würde sie eines Tages auf der Wiese tanzen sehen und sie nach London holen. Im nächsten Augenblick sah sie sich im Covent Garden auf der Bühne stehen, eingereiht in die Gruppe der Tänzerinnen. Aber da kam auch schon der russische Tänzer Nurejew mit drei Schritten auf sie zu, nahm sie bei der Hand, führte sie ganz nach vorn, und dort sollte sie den Pas de deux mit ihm tanzen... Aber wer jetzt mit festen Schritten kam, war nicht Nurejew, sondern Tante Elspeth, die sich heimlich in Julias Schlafzimmer geschlichen und das Licht unter der Bettdecke gesehen hatte. Sie riß Julia das Buch aus der Hand und
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