Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Und mein Büro ist ganz oben. Da in der Mitte. Oben in Mitte in der Mitte, als Intendant des Theaters in Mitte!!! Ha. Ha. Ha. Das habe ich gleich meiner Freundin Sonya am Abend der Premiere erzählt. Kourosh weiß es auch schon. Eigentlich alle. Mami müsste natürlich herkommen mit Dir, ist ja klar. Du wirst sehen, das wird einfach großartig. Wir schmeißen die Amateure alle raus, und dann geht’s los. Ich muss nur noch mit den richtigen Leuten darüber sprechen. Am besten gleich mit dem Bürgermeister. Wem gehört eigentlich das Postfuhramt? Die Idioten vom Discounter wissen nichts oder antworten zu langsam. Die sind eh alle viel zu langsam. Wie der Rest der Welt. Die brauchen alle einen Taktgeber, sonst verharren sie in ihrer Totenstarre. Zombies. Amateure. Nu mal hopp, hopp, hopp.
Ich habe die Idee, die Generalprobe am Mahnmal abzuhalten und das Ganze zu filmen. Ein gigantisches Labyrinth aus Steinsäulen, das an die Juden erinnert, die während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden sind. Ein faszinierendes Bauwerk mitten in der Stadt, das Peter Eisenmann entworfen hat.
Kurzerhand bitte ich Tina, die Assistentin, ein Taxi zu bestellen. Mercedes natürlich. Ich fahre nur noch in Autos mit Stern auf der Kühlerhaube. Ist klar. Der Herr Direktor und seine Schauspieler. Alle sind begeistert von meiner großartigen Idee. Nur eine Schauspielerin nörgelt ständig herum: »Das können wir doch nicht machen. Das gibt nur Ärger.« Sie fährt voll auf der Betroffenheitsschiene. Bitte sehr, soll sie doch. Ich lache ihre Bedenken einfach weg und nehme gleichzeitig alles noch persönlicher als sonst.
Als wir am Mahnmal ankommen, ist alles wie von uns bestellt. Die Sonne geht gerade unter, und kaum jemand nimmt Notiz von uns. Ich lasse die Schauspieler den ersten Akt durchspielen und begleite sie mit der Handkamera. Ich komme mir vor wie der dänische Filmregisseur Lars von Trier bei den Dreharbeiten zu seinem Film Idioten . Nach dem letzten Satz von Wiebke blende ich ab. Alles fließt für einen Moment in einem schwarzen Bild zusammen. Dann ist es vorbei. Aus. Ab ins Taxi und zurück zum Theaterdiscounter. Dort angekommen, merke ich, dass ich versehentlich eine Reinigungskassette eingelegt habe! Ich unprofessioneller Idiot! Amateurhafter Tölpel! Aus Wut über mich schreie ich erst mal Jörg zusammen, unseren übergewichtigen Dramaturgen. Ich werde richtig ausfallend. Die Wörter, die jetzt kommen, solltest Du sofort wieder vergessen, ich lege Dir gleich mal 10 Euro für die Schimpfwortkasse bei.
»Du verfettetes Stück Scheiße! Wie kann man nur so dumm sein? Du Armleuchter. Vollspacken! Das ist wieder mal typisch. Da überlässt man einem Dramaturgen einmal etwas Praktisches! Du solltest die Kamera besorgen. Du hättest sie checken müssen, du Spast. Du bist einfach zu dick! Auch im Kopf. Meine ich ganz ernst. Nee, wirklich. Zu fett.«
Zum Glück fangen Ulf und David an zu lachen, und die anderen lassen sich davon anstecken. Meine Wut und mein Frust weichen schnell der Gewissheit, dass dieser Moment einzigartig war und damit der Größe unseres Unternehmens angemessen. Ich weiß jetzt, dass einem Erfolg nichts mehr im Weg steht.
Wir fahren gemeinsam zum Essen ins Block House. Dein Lieblingslokal. Meins auch. Als Kind schon. Damals wegen des Spielzeugs, heute wegen des Fleisches. Fleisch muss es sein.
Nach dem Essen bekomme ich auf einer Verkehrsinsel mitten auf der großen Straße vor dem Lokal meinen ersten großen Weinkrampf. Ich heule wie seit Jahren nicht mehr. Wie ein übermüdetes Kind kann ich gar nicht mehr aufhören. Es tut so weh. Ich kann nicht mehr. Alles wird mir zu viel. Schlagartig weicht jede Stärke aus mir. Ich bin nur noch eine leere Hülle, ein verschrumpelter Ballon, dem die Luft ausgeht. Wiebke redet auf mich ein. Dass ich zu schnell bin. Dass ich Leute verletze, dass ich mich selbst verletze. Dass keiner mehr mein Tempo mithalten kann. Auch sie nicht mehr. Sie sagt, sie müsse schlafen, schließlich sei morgen Premiere. Sie sagt, sie habe keine Kraft mehr.
Ich wusste bis vor zwei Minuten gar nicht, wohin mit meiner. Und nun plötzlich diese abgrundtiefe Verzweiflung. Der Graben zwischen mir und den anderen wird immer größer. Wenn mich nicht einmal mehr die Menschen verstehen, die ich liebe. Wenn sich selbst die zurückziehen. Zum ersten Mal weiß ich, was Weltschmerz bedeutet. Die ganze Welt schmerzt mich. Es zerreißt mich. Liebe und Hass haben mich in einem Ausmaß in Besitz genommen,
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