Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Großeltern Teenager waren. Brian Wilson saß hinter einem riesigen Keyboard. So einem elektrischen Klavier. Hinter ihm ein Chor aus bildschönen schwarzen Frauen. Alle im schwarzen Kostüm. Wilson sang, und wenn er nicht Klavier spielte, vollführte er mit seinen Händen einen aberwitzigen Tanz, der völlig losgelöst von der Melodie und schier gegen den Takt gerichtet war. Er schien ganz bei sich und gleichzeitig nicht von dieser Welt zu sein. Es hatte etwas Göttliches. Beneidenswert.
Wenige Tage später kamen U2 ins Olympiastadion, das mit seiner größenwahnsinnigen Architektur der ad-äquateste Ort von allen ist. Das Stadion hatte Adolf Hitler für die Olympischen Spiele 1936 bauen lassen. Vorbild waren die antiken Sportstätten der Griechen. Während des Krieges wurden in den unterirdischen Räumen, den Katakomben, Zünder für Bomben hergestellt. Die Atmosphäre des Stadions setzte meiner euphorischen Grundstimmung die Krone auf. Natürlich waren wir auch hier Profis und bekamen die besten Karten zu einem Spottpreis. Direkt vor dem Stadion, kurz vor Beginn des Konzerts. Gerade als wir unsere Plätze erreichten, begann die Show. Großartig. Was für ein Timing. Im Sommer muss Musik einfach live sein, höre ich mich öfter sagen.
Nach dem Konzert geleite ich unsere kleine Gruppe sicher durch die Massen und lande, wie selbstverständlich, in einem chinesischen Biergarten. Wie geil. Entschuldige das Wort, aber es passt einfach. Ein chinesischer Biergarten – so etwas gibt es nur in Berlin. Draußen ist es rappelvoll, wir müssen uns irgendwo dazuquetschen. Zielstrebig steuere ich auf einen Tisch zu, an dem ein ziemlich durchgeknallter Typ sitzt. Ein Mann, der offensichtlich Männer liebt, ganz besonders junge, große. Er versucht mich die ganze Zeit zu provozieren, weil er annimmt, ich würde auch Männer lieben. Mein Einwand, ich hätte es probiert und zu langweilig gefunden, stachelt ihn umso mehr an. Er möchte mich erobern. Alberner Versuch. Mir wird das Ganze schnell zu dumm, und wir flüchten trotz Hitze nach drinnen. Dort trinken wir weiter. Das heißt, ich trinke. In abartiger Geschwindigkeit. Nun bin ich derjenige, der provoziert. Es bringt einfach zu viel Spaß. Fast bekomme ich von einem Amerikaner eins auf die Nase, der aussieht wie Lance Armstrong. Du weißt schon, dieser Radrennfahrer, der sieben Mal hintereinander die Tour de France gewonnen hat. Weil ich ihn immer wieder, durch den ganzen Raum brüllend, auf die Ähnlichkeit hinweise. Er tötet mich mit Blicken und droht mir. Ich setze noch einen drauf. »Lance Arm STRONG , you know?« Armstark. Ha, ha. Ich finde mich unglaublich witzig und könnte immer so weitermachen. Aber bevor ich tatsächlich eins auf die Nase kriege, greift ein Altrocker aus Hamburg ein, der hinter uns sitzt. »Du Schietbüdel!«, weist er mich zurecht. Alle müssen laut lachen.
Allein das Wort löst Heimwehgefühle in mir aus. Ich kann wirklich in keiner anderen Stadt leben als in Hamburg, auch wenn ich hier in Berlin den Sommer meines Lebens erlebe.
Wir verlassen das Lokal, kaufen ein paar Flaschen Wein und fahren quer durch die Stadt zu Wiebke. Trinken, Reden, verliebtes In-die-Augen-Schauen. Sie schafft es, mich kurzfristig in meinem Redefluss zu unterbrechen. Sie erzählt von sich. Ihrer Familie. Ihren Wünschen. Irgendwann schläft sie ein. Ich bleibe wach. Alles flirrt. Alles glüht. Ich brauche nicht zu schlafen. Ich bin ein Delphin. Die schlafen mit einer Gehirnhälfte, mit der anderen schwimmen sie einfach weiter. Immer weiter.
gestern Abend war ich doch tatsächlich zu müde zum Weiterschreiben. Das liegt vielleicht auch daran, dass es mir immer noch sehr weh tut, über die Ereignisse zu berichten. Mami behauptet ja von sich, sie sei eine »Konfliktschläferin«. Wenn wir uns streiten, verkrümelt sie sich irgendwann einfach ins Bett und legt sich schlafen. Ich kann das nicht, ich muss immer alles vor dem Schlafen klären. Bereinigen. Sonst finde ich keine Ruhe. Jedenfalls war das bisher so. Dass ich gestern eingeschlafen bin, ist vielleicht einfach ein Schutzreflex meiner Seele. Denn diese letzten Tage in Berlin waren voller Extreme. Eine einzige Ausnahmesituation, die so lange anhielt, dass sie zur Regel wurde. Es ist alles noch so gegenwärtig, und ich bin froh, dass ich mit Hilfe der Meisensmarties ein paar Stunden Ruhe vor meinen kreisenden Gedanken gehabt habe.
Nun aber weiter mit Berlin. In der letzten Woche halte ich es in Moabit nicht mehr aus.
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