Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Verzweiflung einfach hineingeworfen. Ohne geht es aber nicht. Am besten beantrage ich auch eine neue Nummer. Dann können die Idioten aus dem Theater mich auch nicht mehr erreichen. Ich gehe sofort zu Vodafone. Die haben ein rotes Logo – der Mobilfunkanbieter für Profis. Das neue Telefon muss schwarz sein, das versteht sich von selbst. Sony ist gut. Ja. Schwarzes Handy, roter Mercedes und schwarzroter U2-iPod. Ja. So fahre ich durch die Gegend. Ich kaufe mir noch eine Leica und versuche, durch die Kameralinse einen größeren Abstand zur Realität einzunehmen. In St. Georg fotografiere ich nachts die leichten Mädchen, auch wenn diese weder Mädchen sind noch irgendetwas an ihnen leicht ist. Wie auch. Auf St. Pauli knipse ich Anna. Die schöne Anna. Anna war meine Ausstatterin für Dreier , Späte Wut und La Strada . Seltsam. Auch ihr gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen. Weil mir für die großen Produktionen am Schauspielhaus ein anderer Bühnenbildner zwingend vorgeschlagen wurde und ich nicht für sie gekämpft hatte. Jedenfalls musste ich Anna unbedingt besuchen. Von ihr habe ich das schönste Bild gemacht, es aber später aus Versehen gelöscht.
Nach der Foto-Nachtschicht in St. Georg kann ich gar nicht schlafen. Ich entsinne mich, mehr Sport machen zu wollen, und steige in mein neues Tenniskostüm. Ganz in Weiß. Schwarz, Weiß und Rot. Profifarben. Mit dem nagelneuen Schläger mache ich mich auf den Weg nach Niendorf. Vorstadt. Der deutsche Versuch, amerikanische Vororte zu kopieren. Sehr spießig.
Früher war ich dort im Tennisclub. NTSV . Niendorfer Turn-und Sportverein. Erst Judo, dann Volleyball und schließlich Tennis. Genau dorthin fahre ich, weil es dort eine Ballwand gibt. An der kann man allein auf die Bälle einprügeln. Es ist sieben Uhr früh, und zu meiner Überraschung sind schon zwei rüstige Senioren auf dem Platz. Sie spielen ganz passabel. Einer von ihnen spricht mich an. Er möchte später, nach seiner Partie, ein Match mit mir wagen. Ja, gern. Ich kloppe mit aller Kraft auf die Wand ein und hetze von einer Seite zur anderen.
Direkt nebenan ist mein altes Gymnasium. Ich höre den Schulgong und habe eine prima Idee. Meine Abiturklausuren. Die wollte ich immer schon einmal lesen. Vor allem die in Deutsch. Da ist mächtig was schiefgelaufen, denke ich. Es ging um den Hofmeister von Jakob Michael Reinhold Lenz. Der war auch verrückt. Die Klausuren fanden damals mitten in der ersten manischen Phase statt. Das ist mir heute ganz klar.
Kaum habe ich forsch das alte Schulgelände betreten, dauert es nicht lange, und ich sehe ein paar alte Lehrer. Mich amüsiert das zutiefst. Ich freue mich richtig. Im Sekretariat ist Schluss mit lustig. Wie früher. Was ich wolle? Die Sekretärin schaut genauso ängstlich und eingebildet wie mein Biolehrer. Der ist völlig geschockt, als er mich beim Betreten des Vorzimmers erblickt. Er ist jetzt Rektor. Umso besser, kann ich mein Anliegen ja gleich ihm vortragen. Er ist wenig begeistert und verweist auf die Schulordnung. »Das ist völlig unüblich. Wenn das alle …« Den Satz habe ich schon immer geliebt! Was ist denn, wenn alle das so machen würden? Da er aber auch weiß, dass ich eine penetrante Nervensäge sein kann, nicht erst jetzt mit der freien Meise, verspricht er sich zu kümmern, wenn ich schnell wieder verschwinde. Draußen steht ein schwarzer Junge, etwa fünfte Klasse, noch ganz neu, und weint verzweifelt. »Meine Schuhe, ich kann meine Turnschuhe nicht finden. Zu Hause waren sie noch da!«
Gibt’s doch gar nicht. Ich biete meine Hilfe an, wir melden uns ganz offiziell ab und dann steige ich mit ihm in meinen Benz. Seine Verzweiflung rührt mich und erinnert mich an früher. Wir fahren im Schneckentempo durch das Viertel, und ich habe eine Menge Zeit, ihn auszufragen. Seit wann bist du an der Schule? Bei wem am liebsten? Bei wem nicht so gerne? Logisch, dass er am besten mit Herrn Wieland klarkommt. Mein geliebter alter Theaterlehrer, der mit einer schwarzen Tänzerin verheiratet ist. Wir finden den Turnbeutel mit den Schuhen kurz vor dem Wohnhaus des Jungen in Schnelsen. Zurück in der Schule, wandern wir quer durch das Gebäude, um seine Klasse zu suchen. So sehe ich, was sich alles verändert hat, und treffe noch ein paar Lehrer.
In einem Zimmer steht Herr Sattmann am Pult. Bio. Genau wie früher, als wäre ich nur kurz pinkeln gewesen.
»Was machst du inzwischen, Basti?«
»Och, Theater und so.«
»Na, das passt ja.«
Ein
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