Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
bisschen wie ein sehr exklusives Klassentreffen. Ohne die ganzen Spacken. Ich suhle mich in der Erinnerung und finde mich gleichzeitig wahnsinnig reif. Ich habe es geschafft. Ich habe mich als Profi etabliert. Es war nicht leicht. Aber, seht her. Hier bin ich. Ich lebe. Ich pulsiere. Mit meiner Kraft, mit meinem Charme und mit meiner Intelligenz habe ich es geschafft. Und ihr? Wohnt immer noch hier. Süß.
Als wir wieder auf den Schulhof treten, kommt die Klasse des Jungen vom Sportplatz herüber. Ohne ein Wort läuft er in den Kreis seiner Mitschüler zurück. Lässig steige ich in den Wagen und verlasse diesen gestrigen Ort.
Diese schöne Episode kann mich nicht lange trösten, der Graben wird langsam unerträglich groß. Meine Schnelligkeit ist ein Problem. Keiner kommt mehr mit. Alle wirken überfordert und am Ende ihrer Kräfte. Vor allem Ada. Sie drängt auf einen Besuch in der Klinik. Originellerweise laufen mir jetzt pausenlos andere Profiverrückte über den Weg. Vor allem beim Einkaufen. Später werde ich einen Haufen an Visitenkarten gesammelt haben. Ich muss zwanghaft weitermachen. Es bringt ja auch Spaß. Aber ich weiß, dass ich aufhören muss. Dass es bald vorbei ist. Vorbei sein muss.
Allein, es hilft nichts. Ich brauche einen Arzt. Einen Profi. Profimedizin. Lithium könnte helfen, steht zumindest im Internet. Darüber hat Kurt Cobain, der Sänger von Nirvana, sogar ein Lied gemacht. Das klingt angemessen, schließlich war das mal meine Lieblingsband. Bloß keinen Therapeuten. Ich möchte um Himmels willen keine Gesprächstherapie. Womöglich in einer Gruppe. Ich bin völlig ausgequatscht. Über mich und meine Vergangenheit habe ich weiß Gott genug geredet. Brauch ich nicht. Einfach mal, entschuldige bitte, die Fresse halten können. Das wäre schön.
Ich nehme Mami mit in die alte Schule. Ich habe ihr versprochen, danach ins UKE zu gehen. Meine Klausur liest sich nicht so schlimm wie befürchtet, und darüber bin ich ganz beruhigt. Der Rektor ist auch beruhigt, dass ich in Begleitung gekommen bin. Dann fahren wir endlich ins UKE . Psychiatrische Abteilung. Ich habe Angst davor, mich abzugeben. Möchte selbstbestimmt bleiben. Es ist Donnerstag, und es dauert eine ganze Weile, bis ein Arzt Zeit hat. Ich erkläre ihm, was passiert ist, er hört sich alles an und meint am Ende, dass er mich momentan nur in der geschlossenen Abteilung unterbringen könne. Vor Montag sei in der offenen nichts zu machen.
Scheiße!!! So lange will ich nicht warten müssen. Ada ist selbst kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Den hätte sie sich schon lange verdient. Sie ist so tapfer. Und ich bin eine nervige Psychozicke. So geht es nicht. Es muss sich heute etwas ändern, sonst fliegt alles auseinander.
Da bin ich dann auf Warnstorf gekommen.
So. Jetzt weißt Du, was bisher geschehen ist.
Ich wünschte, ich hätte eine Kopie von den Briefen gemacht, die ich Dir geschrieben habe. Dann müsste ich die Geschichte nie wieder erzählen. Könnte jedem Arzt die Blätter auf den Tisch legen.
Ich suche nach meiner Form. Ich suche aber auch nach Verständnis. Ich wünsche mir, verstanden zu werden, ohne mich so aufwendig zu erklären. Aber ich fürchte, das ist ein dummer Wunsch.
Alles Liebe,
heute war ein guter Tag. Erst haben wir kurz telefoniert, das hat mich glücklich gemacht: Deine Stimme zu hören und zu spüren, dass es Dir gutgeht bei Omi. Ein bisschen traurig war ich auch, aber das ist ja normal. Vor allem aber freue ich mich für Dich. Dass Du eine so tolle Oma hast, die mit Dir nach Travemünde an den Strand fährt und Dir jeden Wunsch von den Augen abliest. Genau so war Mima für mich, als ich so alt war wie Du. Ihr Haus in St. Peter-Ording war mein Rückzugsort. Mit Mimas Tod im vergangenen Winter ist für mich viel verlorengegangen. Die Ärzte hier vermuten, dass ihr Tod auch ein möglicher Grund von vielen für die Meise sein könnte. Ich habe jedenfalls das Gefühl, als dürfte ich seit Mimas Tod kein Kind mehr sein. Bin ich auch nicht mehr. Ich bin ja Dein Vater. Aber gleichzeitig bleibe ich für meine Mutter und erst recht für meine Großmutter immer ein Kind. So wie Du auch immer mein Kind bleiben wirst. Das hat mich früher oft genervt. Man möchte doch ernst genommen werden. Aber irgendwann habe ich es auch genossen, Kind zu bleiben. Jetzt geht das nicht mehr. Ich vermisse sie. Meine Mima. Mein Kinderzimmer dort. Das Bett unter der Dachschräge. Die Tapete mit den Birken und den verfärbten Blättern
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